Zuerst war es ein Spiel, wir waren eine Gruppe, aber ich erkannte keine Gesichter. Nur das von Misha. Misha war das Ziel. Er rannte plötzlich los und wir sollten ihm 6 Minuten Vorsprung geben, bevor wir ihn verfolgen durften. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, gleichzeitig fragte ich mich jedoch ständig, was zum Teufel ich hier eigentlich mache. Dann rannte auch ich los, Misha hinterher. Durch weiße, menschenleere Häuserschluchten. Die anderen Verfolger in der Nähe, aber immer noch diffus und ohne Gesichter. Ich sah, wie Misha in einen Hauseingang verschwand und folgte ihm auch dort hin. Ich betrat ein Labyrinth. Sofort war mir klar, dass es nur ein Labyrinth sein konnte. Ein weiß gestrichenes, enges, auf mehreren Etagen verlaufendes Durcheinander von Gängen und Treppen, ohne Fenster, mit Fallgruben und Geheimtüren. Ich hatte keine Angst und ich glaubte noch immer Misha vor mir zu sehen. Die anderen Verfolger waren verschwunden.
Ich krabbelte durch die Labyrinth-Gänge und ein Gedanke war die ganze Zeit in meinem Kopf, wie eine Anweisung, oder wie eine Karte: Geh immer nach links und nach unten. Und so gelangte ich in eine Art Hotellobby. Gemütliche Sessel waren aufgestellt, dezente Musik im Hintergrund. Eine große dunkle hölzerne Treppe war mit einem roten Teppich ausgelegt und an einer Bar standen ein paar Gäste, die sich als Misha-Mitverfolger zu erkennen gaben und mir bisschen mitleidig zuprosteten, da ich erst jetzt diesen Ort gefunden hätte und Misha längst wieder weg wäre.
Ich ging langsam die große Holztreppe hinauf und atmete diese unglaubliche Mischung aus Samt, Leder, Bohnerwachs und Vornehmheit. Ein Teil in mir wollte weglaufen, aber unbeirrt ging ich weiter. An einem Panorama-Fenster blieb ich stehen und blickte auf die Straße. Ein Kind weinte auf der Straße. Zu seinem Füßen, noch an der Leine, lag ein weißer Hund mit struppeligen Fell. Er lag auf seinem Rücken, die Beine nach oben gestreckt und die Zunge hing ihm aus dem Maul. Er rührte sich nicht mehr. Das Kind zog an der Leine und weinte. Passanten gingen jedoch achtlos vorrüber. Ich stand am Fenster, meinen Kopf an die kühle Scheibe gelehnt, und weinte. Ich trauerte um den Hund. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter: Ein Freund lächelte mich an, ohne etwas zu sagen. Mit einem Kopfnicken wies er auf den Hund, der jetzt wieder auf allen Vieren stand, mit dem Schwanz wedelte und mit einem lachenden hüpfenden Kind verschwand. Ich drehte mich um und war wieder allein. Mein Freund war verschwunden.
Plötzlich war ich in einem lichten Wald. Es roch nach Kiefern und Meer. Unter mir Sand und Kiefernnadeln. Ein gewundener Waldweg führte steil bergauf. Der Weg war anstrengend und ich schnaufte etwas. Neben mir lief eine Freundin. Sie sprach ebenfalls kein Wort, blickte mich nur fragend an. Ich nahm sie an die Hand während wir weiter gingen, und sagte ihr, sie solle nur noch ein kleines bisschen warten, gleich würde sie es sehen. Sie vertraute mir und wir schafften gemeinsam den Aufstieg. Dann standen wir oben und blickten auf ein stürmisches Meer hinab und der Anblick raubte uns gleichermaßen den Atem, so gewaltig und schön und vertraut war er. Das Meer war graublau und die Wellen, die unter uns an den Steilküstenstrand donnerten, waren gigantisch. Unaufhörlich wuchteten sie sich gegen den Felsen und ich schaute hinab und freute mich über den Anblick. Ich wollte in dieses Meer, ich setzte bereits zum Sprung an, doch meine Freundin hielt mich lächelnd zurück und sagte nur: Noch nicht. Bald.
Dann war ich plözlich wieder in dem vornehmen alten Hotel. Ich betrat zögernd einen Raum, dessen Tür nur angelehnt war. Es war ein großes Schlafzimmer, mit schweren Vorhängen an den Wänden, rustikalen alten aber sehr gepflegten Möbeln, alles mit dunklem Samt überzogen und mit Teppich ausgelegt. Trotzdem wirkte der Raum einladend. Ich trat ein und wurde von einer älteren Frau mit einem warmen Lächeln begrüßt. Ich glaube, ich kannte sie, aber ich konnte mich nicht an ihren Namen erinneren, oder woher wir uns kennen würden. Auch sie sprach kein Wort, schlug aber mit einer einladenden Geste die bestickte Decke des Bettes auf. Ich verstand, hatte auch schon einen weichen weißen Schlafanzug an und verschwand in dem Bett. Alles um mich herum wurde beruhigend dunkel. Ich war zu hause.