Ich sah sie schon vom Balkon aus, die 6 Männer und Frauen, die sich an der Straßenecke trafen und unauffällig die Wachtturmzeitschriften unter sich verteilten. Ich war gespannt, ob sie auch bei uns klingeln würden. Ich drückte die Zigarette aus und schälte mich in meine Jacke, denn es war Sonnabend Vormittag und mein Friseurtermin stand an. Da die Zeit nur für einen Cappuccino zum Frühstück gereicht hatte, stopfte ich mir noch ein Schokoriesenbonbon in den Mund und wollte gerade die Schuhe anziehen, als es tatsächlich klingelte. Ich riss die Tür auf, neugierig, ob es wirklich die Zeugen wären. Sie waren es! Vor unserer Wohnungstür standen eine etwas ältere Frau mit einem breiten, einen Hauch zu aufgesetzten Lächeln, hinter ihr versteckte sich ein junger Mann, nicht älter als 16. Dieser schien direkt aus einer Castingshow für Außenseiter entlaufen zu sein: schlacksig, immer im Kampf mit der Krawatte, die über dem karierten Hemd hindurchschimmerte, streng gekämmtes Haar. Kurz glaubte ich einen neidvollen Blick von ihm zu erhaschen, der meinem genüsslichen Lutschen meines Schokoriesenbonbons galt, denn natürlich ist das Verputzen von Süßigkeiten während des Predigens ein Zeugnis von Respektlosigkeit und ihm damit untersagt.
„Guten Tag und guten Appetit!“ begrüßte mich die Frau; sie hatte wohl ebenfalls mein zelebriertes Bonbon-Kauen bemerkt. Ich murmelte einen Guten Tag zurück und überlegte bereits, wann und wie ich ihnen die schreckliche Tatsache verkünde, dass sie gerade versucht, Abtrünnige zu missionieren.
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Glauben Sie an ein Paradies?“ Sie sah mich erwartungsvoll an.
Wie das Riesenschokobonbon lag mir eine flapsige Antwort auf der Zunge, etwa: ‚Oh, ich entdecke mein Paradies täglich neu, in diesem Augenblick in Form eines Bonbons!’. Ich könnte auch von meiner eigenen Theorie eines persönlichen Seelenparadieses erzählen oder von meiner Hoffnung im Herzen, dass da irgendwann, jenseits von allem Körperlichen, mehr sein möge, als nur endlose, unbewußte Ewigkeit.
Ich ließ es sein, denn ich weiß, dass diese Menschen gar nicht an meinen persönlichen Glauben und Vorstellungen interessiert sind, sondern mir das, was sie als Wahrheit verstehen, ins Gehirn zwingen, systematisch mein Weltbild zerhacken wollen, um mir dann das ihrige einzuflößen, tropfenweise, immer darauf bedacht, eigenständiges Denken auszuschalten.
Hatte ich schon – brauche ich nicht noch einmal.
„Ich glaube, Sie dürfen gar nicht mit mir reden. Wir sind Abtrünnige!“ sagte ich ihr freundlich lächelnd und wahrheitsgemäß, gespannt auf ihre Reaktion.
Die verlief wie erwartet: Ihre Gesichtszüge entgleisten in Zeitlupe, ihr aufgesetztes Lächeln vereiste und der Junge hinter ihr trat entsetzt noch einen halben Schritt zurück.
„Oh, das wusste ich nicht“ stammelte sie; und ich glaubte ihr, denn ihr ins Gesicht geschriebene Entsetzen und die Abscheu waren echt. Da stand ich also vor ihr, munter und am Leben, wo wir uns doch von dem einzigen Gott wissentlich abgewandt, ihn verstoßen, uns seiner Führung entzogen hatten. Ich sollte ein unglückliches, von Zweifeln und Ängsten zerfressenes Leben führen, denn das war es doch, was Abtrünnigen widerfährt ohne die Liebe des wahren und einzigen Gottes und seiner Organisation. Glück, Zufriedenheit, Liebe standen uns nicht mehr zu. Und doch stand ich vor ihr, Bonbon kauend, lächelnd, selbstbewußt – und frei.
„Sie haben sich also entschieden?“ hakte sie nach, mehr, um überhaupt etwas zu sagen. Aus ihrer Stimme war jede Freundlichkeit schlagartig verschwunden.
„Ja, wir haben uns für das freie Denken entschieden!“
Ich beobachte, wie sie mit sich rang. Die Verhaltensvorgaben der Wachttumrorganisation für einen solchen Fall sind klar definiert. Alles ist klar reglementiert und definiert in diesem Verein, selbst die Sätze, wie man ein Gespräch beginnt, lenkt und beendet! Sie hatte sich umzudrehen und ohne Gruß davonzugehen.
„Entschuldigen Sie!“ murmelte sie. Ihr Paradies hatte sie völlig vergessen.
„Einen schönen Tag noch“, lächelte ich ihr hinter her und ein bisschen tat sie mir jetzt Leid. Die einzelnen Zeugen Jehvoas sind sicher keine schlechten Menschen und ein Großteil glaubt – will glauben – dass sie die einzig wahre Wahrheit gefunden haben und sie durch ihr Predigen Menschenleben retten, dass es das ist, was der liebende Gott von ihnen fordert. Sie sehen nicht ihre Unfreiheit, ihre Verblendung, ihr Benutzt-Werden, ihr ständiges Hetzen nach immer mehr absolvierten Predigtdienststunden und übergebenen Zeitschriften. Ich war damals eine von ihnen. Damals. Das ist lange her, ein anderes Leben.
Als ich Minuten später die 3 Etagen durch den Hausflur nach unten stiefelte, begegnete ich den zwei unermüdlichen Predigern vor der nächsten Wohnungstür. Ich lächelte immer noch. Sie beachteten mich nicht mehr. Für sie war ich bereits weniger als Luft. Es war mir egal. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Der Sonnabend gehörte mir.
BRAVO!
Du weißt, ich glaube auch an Gott, aber mir sind die Wachturmmenschen auch nicht ganz geheuer. Ist das Dein Ernst:
„denn das war es doch, was Abtrünnigen widerfährt ohne die Liebe des wahren und einzigen Gottes und seiner Organisation. Glück, Zufriedenheit, Liebe standen uns nicht mehr zu“
Die denken wirklich so? Die können einem echt leid tun. Gut, dass Du Dich dagegen entschieden hast. Man muss im Herzen frei sein, um Liebe spüren zu können; und Du hast massig Liebe in Dir. Sei froh dass Du so fühlen kannst, und vor allem so intensiv; das kann nicht jeder.
*hugs*