Die Naht

Sophie saß an dem klobigen Holztisch in der Mitte der Küche. Die mit Blumen bedruckte Tischdecke war neu und roch aufdringlich nach Wachs. In der Küche war es still, nur das Brummen des alten Kühlschrankes füllte den Raum. Sophie war allein zu hause an diesem späten Nachmittag. Durch das Küchenfenster schimmerte die untergehende Sonne und tauchte den Himmel über den Nachbardächern in ein warmes Goldgelb. Von draußen wehte Lachen zu ihr herein. Sicherlich spielte ihr Bruder Thorben mit Frank und Mario, den gleichaltrigen Nachbarskindern, gerade Verstecken. Seufzend beugte sich Sophie wieder über ihre Hausaufgaben. Mathe. Das zierliche zwölfjährige Mädchen rief sich still selbst zur Ordnung. Bald würde Elvira nach hause kommen, dann musste sie fertig sein mit ihren Schulaufgaben.Elvira war Sophies und Thorbens Stiefmutter, korpulent und meistens schlecht gelaunt, wenn sie abends nach oben in die Wohnung polterte, um kurz nach dem Rechten zu schauen, wie sie sagte. Elvira war Köchin in der Kneipe im Erdgeschoss des großen Mietshauses. Seit vor 5 Jahren Sophies Mutter Mamutschka ganz plötzlich starb, hatte es die herrische Frau nach und nach geschafft, sich in der trauernden kleinen Familie einzunisten. Sophies Vater war nach dem Tod seiner Frau dankbar für jede Unterstützung. Zunächst kochte Elvira ab und zu für die Familie, kümmerte sich um die Wäsche und den Haushalt. Sie beteuerte oft, wie leid ihr die armen Kinder täten. Irgendwann schlief sie das erste Mal in dem großen Ehebett. Und nur wenige Tage später brachte sie den großen Küchentisch mit den zwei eingebauten Schiebespülbecken und einige wenige Habseligkeiten mit und zog in die Wohnung ein. Sie kümmerte sich nach wie vor um die Kinder des Witwers, doch ihr Ton verlor mit der Zeit das Mitleid, wurde fordernder, kälter und strenger. Sie beanspruchte nicht nur das Bett von Mamutschka für sich, sondern auch ihre Kleider und Bücher. Bald erinnerte nichts mehr daran, dass Sophies Mutter je hier gelebt hatte. Das schöne Hochzeitsbild der Eltern, das Sophie so sehr mochte, verschwand eines Tages in einer der Schubladen von Vaters alten Sekretär. Der Vater selbst betäubte sich mit Arbeit und manchmal auch mit Alkohol, war selten zu hause und überließ es Elvira, sich um alles zu kümmern.

Sophie musste nach und nach immer mehr Aufgaben im Haus übernehmen: die große Treppe und den Flur kehren und wischen, sich um das schmutzige Geschirr kümmern, die Wohnstube saugen, dafür sorgen, dass Elvira die Katze nicht zu Gesicht bekam und dass der kranke Thorben seine Stiefmutter nicht zu sehr reizte.

Sophie seufzte wieder und wedelte eine Fliege gedankenverloren zur Seite. Thorben war jetzt 10 Jahre alt und das Problemkind in der Familie. Seit einer Hirnhautentzündung war es an manchen Tagen nicht zum Aushalten mit ihm. Nie saß er still. Die Ärzte verschrieben ihm Beruhigungstropfen. Dosierte man diese aber falsch, was oft vorkam, wurde seine Zunge taub und er sabberte. Ständig lief seine Nase und ging etwas nicht nach seinem Willen, schrie und nörgelte er so lange, bis er auch dem Sanftmütigsten die letzten Nerven raubte. Vater verlor dann schnell die Geduld. So wie erst gestern: Er schrie und versuchte mit einem Stock, den tobenden, brüllenden Sohn zum Schweigen zu bringen. Thorben jedoch kreischte mit jedem Schlag nur heftiger, trat und boxte gegen den Vater. Während die Stiefmutter in solchen Situationen keifend Verwünschungen ausstieß und den Geschwistern mit Heimunterbringung drohte, versuchte Sophie, Vater und Bruder zu trennen. Sie zerrte Thorben in die kleine Kammer hinter dem Schlafzimmer der Eltern, presste seinen Kopf an ihre Schulter und wiegte ihn sanft hin und her, während er weinte und schluchzte und ihr Shirt vollrotzte. Oft weinte Sophie leise mit, trauerte um ihre Mutter und wünschte sich, dass sie, wenn sie die Augen das nächste Mal öffnen würde, wie aus einem bösen, dunklen Traum erwachen und ihre Mutter sie gleich rufen würde, um ihr die Haare zu flechten. Aber sie wachte nicht auf, und Mamutschka würde ihr nie mehr die langen blonden Zöpfe flechten und dabei das Lied von der kleinen Taube ihr ins Ohr summen.

Mit den Jahren war das lebenslustige kleine Mädchen still geworden, aber nicht zerbrochen. Was wussten die anderen schon von den Welten, die sie heimlich in ihren Träumen besuchte und wo alles anders war?

Sophie erschrak, als sie auf die Wanduhr blickte. Gleich 17.30 Uhr. Vater würde bald hier sein. Gerade wollte sie die nächste Aufgabe in ihrem Heft lösen, als es an der Tür läutete. Thorben, ihr kleiner Bruder, drängte herein. Er war schmutzig im Gesicht, seine Nase lief und er hatte geweint. Wortlos hielt er Sophie seine neue Jacke hin und wischte sich mit der anderen Hand über die Nase. In der neuen Jacke klaffte ein 15 cm langer Schlitz. Das würde Ärger geben, gewaltigen Ärger.

„Kannst du das nähen?” schniefte Thorben, und dann sprudelte es nur so aus ihm heraus: „Ich konnte gar nichts dafür, ich bin an irgendwas hängen geblieben und dann hat mich Mario geschubst. Elvira wird ausrasten, wenn sie den Riss sieht!”

Das würde sie allerdings, dachte Sophie. Die Jacke war neu, keine 2 Monate alt. Elvira würde lamentieren, schreien und schimpfen. Schon wieder.

Wortlos nahm Sophie die Jacke und betrachtete den Riss näher.

„Du kannst das doch nähen, Sophie? Du hattest doch Handarbeit in der Schule” quengelte Thorben.

„Ich war nie gut in Handarbeit, meine Stiche werden immer schief. Elvira wird sofort merken, dass die Jacke kaputt ist!” antwortete Sophie, und das stimmte. So sehr sie sich auch Mühe gab, in Sticken und Nähen war sie einfach schlecht.

„Bitte, Sophie, versuch es wenigstens! Du weißt doch, wie Elvira ausrasten kann!” jammerte Thorben.

Sophie seufzte. Ja, das wusste sie gut. Schon wegen Kleinigkeiten geriet Elvira in Wut. Elvira war eine jähzornige Frau, der man am besten aus dem Weg ging. Sophie dachte traurig an die zerstörte Kette aus Muscheln und Federn, ein Geschenk ihrer besten Freundin. Sie hatte die Kette am Morgen im Bad vergessen. Als sie nachmittags von der Schule nach hause kam, wartete Elvira mit dem erst halbvollen Mülleimer auf sie und befahl ihr sofort, diesen nach unten zu bringen. Sophie fand die Kette zerrissen in dem Schmutzeimer. Die Stiefmutter stand mit verschränkten Armen vor ihr und beobachtete mit kaltem Blick jede Regung des Mädchens. Sophie unterdrückte die Tränen und ballte die Fäuste. Sie wollte nicht weinen vor dieser Frau! Sie klaubte die Kette aus dem Dreck und steckte sie in ihre Hosentasche. Elvira ächzte verächtlich und schrie so laut, dass alle Nachbarn es hören konnten: ‚Wenn du deinen Dreck nicht aufräumen kannst, Fräulein, dann zeige ich dir eben, wo der hingehört!’ Sophie hatte nicht vor Elvira geweint, erst später, als sie allein in ihrem Zimmer war und versuchte, die Federn zu säubern und die Kette zu reparieren, rannen ihr unaufhörlich die Tränen über das Gesicht.

„Geh, und wasch dir erst einmal dein Gesicht und die Hände. Wenn Vater dich so sieht, gibt’s nur wieder Ärger!” befahl sie ihrem Bruder. „Ich versuche es zu nähen, aber ich sag’s dir gleich, sie wird es ja doch merken!”

Thorben strahlte Sophie dankbar an und verschwand im Badezimmer. Sophie räumte ihre Schulsachen weg und holte das kleine Nähkästchen aus dem Wohnzimmer. Sie suchte das passende Garn heraus, fädelte es in die Nadel und betrachtete noch einmal den Riss in der Jacke ihres Bruders. Elvira würde das auf jeden Fall merken, unmöglich, dass sie diesen Schaden übersehen könnte. Sophie setzte vorsichtig den ersten Stich.

Mittlerweile war Thorben wieder zurück, mit gewaschenem Gesicht und halbwegs sauberen Händen. Er setzte sich seiner Schwester gegenüber an den Küchentisch, sah ihr beim Nähen zu, zappelte auf dem Stuhl herum und plapperte drauf los: Wie sie bis vorhin Verstecken gespielt haben, draußen, auf dem Grundstück der Nachbarn, da, wo das alte zerfallene Haus steht. Alle waren dabei, sogar die Älteren, die schon in die Oberstufe gingen. Auch Sven, der schon eine Lehrstelle hatte. „Warum warst du nicht mit draußen, Sophie? Das war richtig lustig!”

Sophie hatte ihrem Bruder halb abwesend zugehört. Sie wäre gern dabei gewesen. Sie liebte die Versteckspiele.

„Du weißt doch, dass ich Stubenarrest habe, Thorben.” erinnerte sie ihn. Stubenarrest wegen Muckel. Elvira hatte die Katze letzte Woche in der Wohnung erwischt und einen Tobsuchtsanfall bekommen.

Sophie hatte Muckel vor 8 Jahren geschenkt bekommen. Sie liebte die pechschwarze Katzendame. Auch Mamutschka hatte die Katze geliebt. Als Elvira sich eingenistet hatte, schmiss sie die Katze mit einem Fußtritt aus dem Haus. ‚Solche Plagen würden ihr nicht mehr Schmutz und Dreck machen!’, schimpfte sie und achtete nicht auf das weinende kleine Mädchen, das nicht verstand, warum die Katze nun nicht mehr mit ins Haus durfte. Sophie nahm Muckel jedoch nach wie vor heimlich mit in die Wohnung, wenn Elvira nicht da war. Letzte Woche aber überraschte Elvira sie dabei. Die Stiefmutter prügelte mit dem Teppichklopfer auf die Katze ein, die in eine Ecke gedrängt kauerte, die Krallen ausfuhr und fauchte. Sophie sah keine andere Möglichkeit, als Elvira in den Arm zu fallen und zu versuchen, sie von dem Tier wegzuschieben. Schließlich gelang es der Katze, mit einem Satz an der kreischenden Elvira vorbeizuspringen, allerdings verpasste sie dabei der hysterischen Frau noch einen fetten Kratzer am Bein. Elvira war außer sich vor Zorn und schrie und prügelte nun mit dem Teppichklopfer auf Sophie ein, bis auch Sophie das Weite suchen konnte.

Sophie hing weiter ihren Gedanken nach, während sie Stich für Stich setzte und ihr Bruder unaufhörlich plappernd von den Erlebnissen des Nachmittags berichtete. Das Mädchen dachte in letzter Zeit viel an seine Mutter, und wie es wohl jetzt wäre, wenn Mamutschka nicht einfach gestorben wäre.

Und dann setzte sie den letzten Stich. Fertig.

Erstaunt betrachtete sie die Naht. Sie war gleichmäßig, jeder Stich war exakt gesetzt. Sophie war selbst verblüfft, wie gut ihr die Reparatur gelungen war.

„Mensch, Sophie, klasse. Das fällt ja gar nicht mehr auf, dass da ein Riss war!” staunte Thorben und tastete über die Naht. „Danke, Schwester!” und er gab ihr verschämt einen feuchten Schmatz auf die Wange.

„Elvira wird es trotzdem merken” warf Sophie ein.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Der Riss blieb natürlich nicht unbemerkt. Schon am nächsten Morgen fiel die Jacke Elvira in die Hände. Thorben hielt fast den Atem an. Sophie putzte sich länger als nötig die Zähne und lauschte dabei angespannt in den Flur, wo sich Elvira vor Thorben aufbaute.

„Was ist damit passiert?!” bellte Elviras Stimme durch die Wohnung und sie hielt dem Jungen die Jacke unter die Nase.

„Sie ist zerrissen, aber Sophie hat sie doch gut genäht, Elvira, du hast gar keine Arbeit damit!” versuchte Thorben die Stiefmutter gleich zu beschwichtigen.

„Darum geht es nicht!” erwiderte Elvira und ihr Kopf lief bereits puterrot an. „Ich hatte dir verboten, mit der Jacke draußen zu spielen! Die Jacke war schließlich teuer!”

Noch einmal blickte sie auf die Naht und dann zu Sophie. „Du sollst das genäht haben?” fragte sie ungläubig.

Statt Sophie antwortete wieder Thorben: „Ja, Sophie hat das genäht. Es ist kaum noch was zu sehen von dem Riss! Gut, nicht?”

„Lüg nicht so frech!” kreischte Elvira los, „Nie im Leben hat das Sophie genäht! Los, sag sofort, wer dir das geflickt hat, Thorben!”

Thorben sah verständnislos zu Sophie und setzte eine trotzige Mine auf: „Ich sage die Wahrheit, Sophie hat das genäht! Stimmt’s Sophie?”

Sophie nickte nur.

„Du willst das genäht haben? Du? Du kannst doch sonst nichts richtig machen! Ihr lügt alle beide! Na wartet, das werde ich eurem Vater sagen, was für verlogene Bälger ihr seid!” Elvira’s Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Ich weiß schon, wer das genäht hat, bestimmt die alte Frau Laschke von nebenan! Gib es ruhig zu, ich bekomme es sowieso heraus!”

Bevor Thorben noch mehr sagen – und damit die Lage nur noch verschlimmern konnte – nahm Sophie ihren Bruder bei der Hand und beide rannten mit ihren Schultaschen und Jacken aus dem Haus. Die plärrende Stimme der Stiefmutter wurde leiser und verstummte schließlich.

„Warum hast du nichts gesagt, Sophie?” verlangte Thorben von seiner Schwester zu wissen, als sie endlich langsamer wurden und das Haus mit der schimpfenden Stiefmutter hinter der Straßenbiegung verschwunden war.

„Weil es keinen Sinn macht, Thorben. Sie wird es sowieso nicht glauben. Aber ist ja auch egal.” antwortete Sophie. Und das war es auch, es war ihr egal. Sophie stellte erstaunt fest, dass es ihr tatsächlich nicht darauf ankam, von Elvira für etwas gelobt zu werden. Sie wusste, dass ihr die Naht gut gelungen war. Wäre es eine Handarbeitshausaufgabe gewesen, hätte sie sicherlich eine glatte Eins darauf bekommen.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Am Abend stand Sophies Vater schweigend auf dem kleinen Balkon und starrte in den Himmel. Sophie stellte sich still neben den hageren Mann und blickte ebenfalls in die Dämmerung.

„Hast du Thorbens Jacke genäht?” fragte er unerwartet. Sophie nickte nur.

Plötzlich nahm er Sophies Hand in die seinige und drückte sie sanft. „Das war eine gute Arbeit, Sophie!” Über Sophies Gesicht huschte ein Lächeln. Sie schmiegte sich noch enger an ihren Vater und wünschte, dass dieser Augenblick ewig sein möge.

Dieser Beitrag wurde unter Geschichten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.