Einsamer Muttertag

Der Wald meiner Kindheit hatte keine Mücken, aber Felsen. Ich sehnte mich nach Wald, eigentlich sehne ich mich seit mehr als 20 Jahren nach Wald, richtigen Wald. Aber hier ist weit und breit nichts, was man als Wald identifizieren könnte.

Aber halt, das stimmt nicht ganz. Etwa 45 Autominuten hinter Varel soll es einen Wald geben. Google weiß so etwas. Es soll sogar ein Urwald sein. Und warum nicht? Es ist Sonntag, herrlichsten Maiwetter. Anstandshalber habe ich Knuffel gefragt, ob er mit wolle. Wollte er natürlich nicht. Rücken! Ich kann’s ja verstehen. Vor knapp 20 kg wollte ich zwar auch überall hin, aber schon der Weg zum Auto war die 100 Schritte zu viel. Ich erinnere mich an unseren letzten gemeinsamen Rügen Urlaub.

Auch M. wollte nicht mit; aber das kann ich verstehen. Es ist Muttertag, und an Oskar denken, tut einfach noch weh. Mir auch. Jeder trauert auf seine Weise und manchmal muss man das auch für sich alleine tun.

Also bin ich alleine los. Ich stellte es mir friedlich vor, wie ich eine Waldbank finden, mein blaues Handtuch darauf ausbreiten und ein wenig im mitgenommenen Kindle unter grünen Blättern und zahlreichen Vogelgezwitscher entspannt und alleine lesen würde. Hübsche romantische Vorstellung, oder?

Nun, zunächst einmal herrschte zäher Verkehr auf der Bundesstraße zum ausgesuchten Zielobjekt Wald. Aus den angekündigten 38 Minuten wurde fast eine Stunde. Angekommen auf dem Waldparkplatz (ja, ich bin clever und gebe in weiser Voraussicht immer Parkplatz dortundda ins Google Navi ein); bräuchte ich eigentlich erst Mal eine Toilette. Aber da war natürlich keine. Nicht mal ein Dixie. Ich lauschte in mich hinein und entschied, dass ich es noch eine Weile ohne aushalten würde. Und ansonsten war ich ja im WALD, Natur und so. Ich schnallte mir den Rucksack auf, stülpte das Cappi auf die zerzausten Haare und stiefelte los.

Natur war da, Leute leider auch und noch schlimmer: Mücken. Und die schienen mich als Essen auf Füßen zu verstehen. Das Buffet war eröffnet; und während ich noch fasziniert jeden Baum, Baumstumpf, Wurzelgebildet und Blättermagie fotografierte, wehrte ich mit der anderen Hand die Biester so gut es ging ab. Sitzen und ein Buch lesen? Vergiss es! Aber nun war ich hier, hatte mich durch den Verkehrsstau gekämpft und wollte mich nicht von ein paar Insekten aus dem Wald verscheuchen lassen. Zu Hause würde eine gründliche Dusche und Behandlung mit Fenistil sicher helfen. Ich spazierte also Mücken abwehrend meine 3000 Schritte durch den Wald.

Irgendwann wurde das Pipi-Problem allerdings doch mächtig. In knapp einer Stunde könnte ich zu Hause sein, denn nach den Mückenkampf im Wald war ich ein wenig verschwitzt und nicht mehr öffentlichkeitstauglich vorzeigbar. Ich beschloss nach Hause zu fahren. Genug Wald.

Die Nach-Hause-Fahrt ging schneller. Die scheinen immer schneller zu gehen. Die Klimaanlage im Mazda half, mich wieder einigermaßen akklimatisiert ausgehfertig zu bekommen, und Pipi musste ich eigentlich auch längst nicht mehr soooo dringend. Ich könnte also eigentlich auch auf einen Kaffee zu den Weserterassen. Okay. Auf geht’s. Es ist schließlich Sonntag, und Muttertag und wer sollte mir es verbieten?

Die Weserterassen hatten geschlossen. Blöd, sie hätten sicherlich Umsatz machen können. Ich spazierte an die Weser, am Strand entlang, kurz in die Büsche. Und nun sitze ich hier auf der Bank und schreibe diese Zeilen. Ich bin immer noch allein, und auch ein wenig einsam, aber es ist jetzt okay, innen drinnen. Die Weser rauscht und die Vögel zwitschern auch hier. Aber keine Mücken! Im Kindle eine hot Story, natürlich Brian & Justin, what else? Ich merke wie die Unruhe von mir abfällt, mein Herz ruhiger schlägt, die Gedanken nicht mehr so gehetzt durch den Kopf jagen. Es ist schön hier, fast ein bisschen wie im Urlaub.

Ich denke an meine Mutti. Ich habe sie nie richtig kennen lernen dürfen. Erinnerungsschnipsel, wie sie mir die Haare flechtet, während ich zwischen ihren Beinen stehe und kleine weiße Friedenstaube singe. Ich hoffe, ich werde sie wiedersehen. Wie alle anderen aus meiner Familie. Vielleicht in einem Wald. Irgendwie, irgendwann. Meinem Vater hätte der Wald gefallen. Torsten sicher auch. Ich vermisse euch. Es ist seltsam, dass man mit den Jahren intensiver vermissen kann. Vielleicht ist das so, weil man nicht weiß, wie viel Wegstrecke Leben man selbst noch vor sich hat; man ahnt aber, dass der Weg nun kürzer wird. Vorher war man so sehr mit dem Vorwärtskommen beschäftigt, hat selten zurück schauen können. Jetzt ist das anders. Und so blicke ich mit ein wenig Wehmut zurück und wünschte, ich hätte mehr Zeit gehabt mit meiner Familie.

Ich werde sentimental. Das wollte ich gar nicht. Die Sonne scheint und ein sanfter Wind weht. Noch immer rauschen die Wellen der Weser und auch wenn ich allein bin, es geht mir gut. Besser als so manch anderem auf diesem Erdenrund. Also genieße diesen Moment, im Mai, an der Weser, mit den Erinnerungen an den Wald meiner Kindheit.

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