Eistränen

Sie lief seit Stunden. Sie lief und weinte, während der eiskalte Januar-Wind ihre Tränen in brennende Eiskristalle verwandelte. Ihr Gesicht schmerzte unter dem eisigen Wind und ihre Hände fühlten sich starr an. Sophie versuchte, ihre Finger zu bewegen, auch wenn es schmerzte. Doch der Schmerz der Kälte war nichts gegen den Schmerz in ihr drin.

Sie hatte geglaubt, dass es eine gute Idee wäre, loszulaufen. Fortzulaufen. Am Anfang hatte sie noch die klare Winterluft genossen, die menschenleere Stille des sanften, weiten, schneebedeckten Hügels, den sie hinauf gewandert war.

Früher war sie hier oft mit ihrem Vater unterwegs gewesen. Mit ihm hatte sie lange Spaziergänge und Wanderungen unternommen. Auch im Winter. Er hatte ihr die Spuren der Tiere im Schnee erklärt; Fotos gemacht und wenn Sophie zu müde zum Laufen war, hatte er sie auf seinen Schultern ein Stück getragen.

Aber an diesem Nachmittag im Januar war Sophie ohne ihren Vater unterwegs.

Mittlerweile schienen Himmel, Horizont und Schneefeld zu einem einzigen Grau verschmolzen zu sein. Der Wind war heftiger und kälter geworden und Sophie spürte jedes einzelne Hagelkörnchen auf ihrem kalten Gesicht. An ihren Wimpern hatten sich bereits Eiskristalle gebildet. Sie war müde, ihr war kalt und sie wünschte, sie wäre nicht so weit gelaufen. Weinend lief sie weiter. Was blieb ihr auch Anderes übrig? Sie wünschte sich ihren Vater an ihre Seite, dass er sie an die Hand nehmen würde, ihr Geschichten erzählt. Mit ihm an ihrer Seite wäre ihr der Weg nach Hause nicht mehr so weit vorgekommen. Aber ihr Vater war nicht bei ihr.

Vater hatte sich verändert, seit Mamutschka …

Sophie vermisste Mamutschka. Mehr als zuvor. Aber Mamutschka war tot. Die Endgültigkeit des Verlustes hatte die 11-Jährige mittlerweile auch begriffen; aber ihre Seele wollte das immer noch nicht akzeptieren. Noch heute, fast 4 Jahre nach Mamutschka’s Beerdigung, machte Sophies Herz jedes Mal einen hoffnungsvollen Sprung, wenn sie Frauen begegnete, die ihrer Mutter in Statur und Gesichtszügen glichen. Nach diesen Herzsprüngen jedoch kamen die unerbittliche Leere und die Trauer, der Verlust, zurück. Noch mehr ängstigte sie jedoch das Gefühl, dass mit jedem Jahr Mamutschka’s Gesicht in Sophies Gedächtnis verblasste. Aber Sophie wollte nicht vergessen, klammerte sich an jedes Stückchen Erinnerung. Doch es war schwer, denn Vater hatte alle Bilder seiner toten Frau weggeschlossen. Und Elvira verbot Sophie, über Mamutschka zu reden. Elvira, Sophies Stiefmutter, war der Grund, wieso Sophie immer öfters von zu hause regelrecht flüchtete. Elvira, die Sophie anbrüllte, wenn die Küche nicht gewischt oder der Abwasch nicht erledigt war; die Sophies Bücher aus dem Fenster warf, wenn Sophie vergaß, sie wegzuräumen. Die jähzornige Elvira, die sich in Sophies Familie geschlichen hatte, Mamutschkas Kleidung trug, den Vater in Kneipen schleppte und Sophie verbot, Freunde mit nach Hause zu bringen.

Endlich war Sophie zu Hause. Die Wohnung war dunkel, und Sophie war froh darüber. Es bedeutete, dass Elvira nicht da war. Erleichtert atmete sie auf, warf die nassen Hosen und den Anorak in die Wäsche und wusch die schmerzenden kalten Hände unter kaltem Wasser. Das hatte ihr ihr Vater beigebracht. Es tat zwar in den ersten Minuten noch einmal weh, aber danach würden sie schnell wärmer werden. Noch immer liefen ihr die Tränen über das Gesicht, weil ihr so kalt, weil sie so müde war und weil sie wünschte, dass wenigstens Vater jetzt da wäre.

Nachdem Sophie wieder etwas Gefühl in ihren Händen spürte, schlüpfte sie in ihren Schlafanzug, obwohl es noch früh am Abend war. Sie kochte sich Tee; und als dieser fertig war, kuschelte sie sich in die Decke auf dem Sofa. Sie machte kein Licht an, genoss die Dunkelheit und die Stille. Nur selten huschten die Lichter vorbeifahrender Autos über die tapezierten Wände. Langsam beruhigte sich ihre Seele. Ihr wurde wieder warm und Müdigkeit, die sich nun angenehm anfühlte, umschlang sie noch mehr. Sophie schlief ein. Sie merkte nicht einmal mehr, wie ihr Vater leise die Wohnstube betrat, ihr sanft über das lange blonde Haar streichelte und sie in ihr Bett trug.

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Eine Antwort zu Eistränen

  1. Notfallplan sagt:

    Hach, mal wieder sehr schön geschrieben, schön aber auch traurig. Typisch Scherbenglanz halt, das gefällt mir. Danke 😉

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