Der Mensch ist ein seltsames Wesen, eines, das sich erinnern kann. Und manchmal, eventuell sogar oft, verändert sich diese Erinnerung, je mehr Zeit vergeht und je schwieriger gegenwärtige Zeiten scheinen.
Die Jugendzeiten hat wohl jeder in glorreicher Erinnerung, jedenfalls dann, wenn sie nicht von Leid, Mangel, Vertreibung und Unterdrückung etc. geprägt war, sondern man – unter welcher Gesellschaftsform auch gerade – eben typisch jung sein konnte: Spaß haben mit Gleichaltrigen, kleine und große Dummheiten begehen, Freunde, mit denen man eine gute Zeit verbrachte, feierte, verreiste und sich über die ältere Generation aufregen konnte, gegen die man natürlich rebellieren wollte, weil man es ganz anders machen würde.
Immer vorausgesetzt natürlich, man gehört zu der „Masse“, die nicht vom herrschenden Staatssystem wegen Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Glauben oder Nicht-Glauben oder wen man liebt ausgegrenzt wurde. Wenn man also dazu gehörte, dann war die Jugend, in welchem System nun auch immer, vermutlich unvergesslich und toll! Ob nun als Jungmädel, Hitlerjunge, Jungpionier oder Pfadfinder. Und wie viele haben sich damals, als 15 oder 16-Jährige/r schon ernsthaft mit Politik und wirtschaftlichen Systemen beschäftigt oder diese hinterfragt?
Problematisch wird es meiner Meinung nach nun, wenn man von diesem nostalgischen Erinnerungsrosa nicht mehr differenzieren kann, was eben „früher“ nicht so „gut war“. Man konnte sicherlich in der DDR leben, viele sogar gut, wenn man sich anpasste, nichts hinterfragte, mit dem Strom schwamm, die richtige Fahne schwenkte und keine Ansprüche stellte, wie zum Beispiel einmal Paris oder Hawaii sehen zu wollen. Natürlich konnte sich wohl jeder eine Wohnung leisten (wenn ihm oder ihr eine zugeteilt wurde), aber alle wussten auch, dass es mit den 20 DDR Mark Monatsmiete nicht möglich war, diese ordentlich in Stand zu halten. Offiziell hatten wir alle in der DDR eine Arbeit, jeder ging zur Schule, alle bekamen notwendige medizinische Behandlungen und einen Kindergartenplatz; und einmal im Jahr fuhr man in den Urlaub über den FDGB.
Wirklich? Alle? Durfte die Klassenbeste aus meinem Jahrgang (Abschluss 10. Klasse im Jahr 1987) studieren? Nein, denn sie war nicht in der FDJ, sondern glaubte an den Typen, der da in der Kirche am Kreuz hing, zu dem man dann zu Weihnachten auch hinging, weil es so schön romantisch ist und ja dazu gehört. Aber studieren durfte sie nicht. Und die Jungs, die sich nicht für 3 Jahre NVA freiwillig verpflichteten, die durften doch bestimmt trotzdem das studieren, was sie wollten, oder? Oder die Familie, die den Ausreiseantrag stellte, weil sie sich eingesperrt fühlte?
Vielleicht waren damals die Menschen trotzdem zueinander höflicher, aufgeschlossener, solidarischer; aber auch nur vielleicht und sicherlich nicht immer und überall. Als in unserem Dorf in den frühen 1980er Jahren Männer und Frauen aus Mozambique in eine verfallene ehemalige Fabrik einquartiert wurden, ging ein hässliches, neidisches Raunen durch das Dorf, das selbst ich als 11-Jährige mitbekam: Wieso bekamen die Westgeld und hatten sogar Jeans, die es im örtlichen Kleiderkaufhaus schon lange nicht mehr gab, und wenn, dann brauchte man Vitamin B oder kannte die Verkäuferin?
Als 15-Jährige fusselte ich mit meinen Klassenkameraden einen Tag aller 2 Wochen in der hiesigen Textilfabrik Bademäntel ab: Die guten, wo jeder einzelne Fussel abgepflückt wurde, waren für den Westen bestimmt, die mussten unbedingt top sein. Ich hätte gern einen gehabt, wo ich den kaufen könnte, fragte ich. Ich bekam nur ein Lachen als Antwort. Die weniger guten Bademäntel und Handtücher, die mit kleinen Webfehlern zum Beispiel, wurden nur noch ausgeschüttelt, diese waren für den DDR Markt bestimmt. In den 3. Container kam der Rest, bei dem war es nicht mehr wichtig, ob der fusselfrei war; den bekam das russische Brudervolk.
Mein Vater, Jahrgang 1926 und überzeugter Kommunist, zerbrach an der Wende. Er hatte sein Leben lang gearbeitet und gekämpft, dafür, dass es dem einfachen Arbeiter und Bauern besser gehen sollte. Er überlebte die Ostfront, glaubte an den Sozialismus, doch zerbrach an der Erkenntnis, dass auch die DDR-Führung das Volk immer mehr belogen hatten, indem sie Wasser predigten und heimlich Wein tranken. Er konnte nicht glauben, dass man die Idee einer solidarischen Gemeinschaft, die zusammen in Frieden und Freiheit wirtschaftet und lebt, aus Eigennutz so verbiegen und verraten konnte. Er gab sein Parteibuch nicht wie viele 1989/1990 zurück, er glaubte weiter an die Idee des Sozialismus; aber der menschliche Egoismus und die persönliche Gier stünden dieser Idee im Weg. Den Gauben an den Menschen hatte er verloren. Er starb 1992.
Und nun lese ich hier in verschiedenen Kommentaren immer wieder, dass es früher so viel besser war in der DDR; und ich frage mich … Was wollt ihr genau zurück? Nur eure sorglose Jugendzeit, eurer beschauliches Leben, frei von Verantwortung; weil es euch ja gut ging, also muss es ja gut gewesen sein, die DDR; zumindest nicht alles schlecht, oder?
Und dann schreit man heute nach einfachen Lösungen und wählt rechtsextreme, die euch die Schuldigen für die derzeitigen Probleme nennen. Flüchtlinge! Klimaschützer! Sie versprechen euch, dass ihr endlich wieder frei eure Meinung sagen könnt – was ihr in der DDR übrigens nicht konntet und in einem von der AFD geführten Deutschland auch nicht (mehr!) tun werden könnt. Sie ködern euch mit dem großen Wort Freiheit, aber sie meinen nicht eure Freiheit, sondern nur die der Reichen und Allerreichsten; die Freiheit, nichts mehr teilen zu müssen.
Die Freiheit, die ihr jetzt habt, ist in Gefahr, und ihr postet wehmütige Kommentare, dass früher alles besser war, als es noch kein LGBTQIA+ gab, oder wokes Gendern, Klimaschutz, der dringender ist, als alles andere. Diese Freiheit, nach der ihr schreit, und die mit der AFD & Co. Einzug halten wird, wird Freiheit einengen, Freiheit, die über Jahre und Jahrzehnte Stück für Stück erkämpft und erstritten wurde. Dann werdet ihr die Freiheit zu spüren bekommen, die ein System hofiert, das keine Solidarität und keine Menschlichkeit kennt; in dem du weggeworfen wirst, wenn du nicht mehr nützlich bist und nicht dazu gehörst. Die Anfänge sind längst da, und es ist nicht nur hier bereits zu sehen!
Natürlich darf und soll man seine Kinder- und Jugendzeit in bester Erinnerung behalten, und es sei jedem gegönnt, der eine solche erleben durfte und sich gern daran erinnert. Niemandem soll deswegen ein Vorwurf gemacht werden, wie niemanden einer jungen Frau einen Vorwurf machen soll, die 1934 eben jung war und das Jungsein genießen wollte.
Doch wenn es darum geht, eine ähnlich gute Erinnerung auch seinen Kindern und Enkelkindern zu gewährleisten, wenn ihr die Zeiten vergleicht und euren Standpunkt für das HEUTE und MORGEN festlegen wollt, dann nehmt doch die Nostalgiebrille herunter und bedenkt, dass Leben Veränderung heißt; und diese Veränderung sollte zum Wohl ALLER Menschen geschehen; und jeder kann seinen/ihren Beitrag dazu beitragen.