Als Kind bin ich viel und auch gern Zug gefahren, kostete ja nichts für uns, da der Vater bei der (damals hieß das noch so) Deutschen Reichsbahn der DDR beschäftigt war. Aufregend war es für mich damals schon.
Dann kamen viele Jahre nach der Wende, wo es mit dem Auto einfach bequemer und schneller war, von A nach B zu kommen.
Deswegen freute ich mich auf die Zugfahrt am letzten Wochenende, von Nordenham nach Speyer und wieder zurück. Zug deswegen, weil die Spritpreise, gerade als ich die Einladung zum BBQ in Speyer bekam, explodierten. Also buchte ich wild entschlossen ein Ticket für die Hin- und Rückfahrt und stellte dann erst fest, dass man schon bei der Onlinebuchung hätte festlegen können, wie viele Minuten man mindestens zum Umsteigen haben möchte. Da war ich aber schon auf dem Buchungsbutton geklettert und stand nun sowohl Hinzu’s wie auch bei der Rückfahrt am Sonntag vor der Herausforderung, den jeweiligen Anschlusszug innerhalb von 4 Minuten zu erwischen, ohne zu wissen, wo ich lande und wo ich dann überhaupt hin muss. Quasi voll der Bahnfahr-Noob. Aber ich war bereit, hatte auch schon einige Geschichten über „Thank you for traveling with Deutsche Bahn“ gehört und war neugierig und aufgeregt, wie ein kleines Kind, das vor einem großen Abenteuer steht.
Dann ging es endlich los; und es war so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Die Zugtüren in Nordenham schlossen sich zischend hinter mir, es knackte und rauschte leise in versteckten Rohren. Von früher hatte ich diese Zuggeräusche viel lauter und intensiver in Erinnerung, aber da zogen auch oft noch richtige Dampflocks die Wagons. Der Zug ruckte an und bald begann die Landschaft an mir vorbeizufliegen. Ich setzte mir meine In-Ear-Kopfhörer auf und fühlte mich wie im Film.
In Bremen hatte ich 40 Minuten Wartezeit; genug Zeit, um noch eben eine zu rauchen und mir einen Kaffee zu organisieren. Dann setzte ich mich abholbereit auf den betreffenden Bahnsteig und beobachtete die Leute. Leute beobachten ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen; könnte ich stundenlang tun.
Da war zum Beispiel die junge Europäerin mit blonden Haaren und knall-rot geschminkt wie eine Puppe, gekleidet in einem rot-gelben Geisha-Gewand. Sie tippelte, obwohl sie keine Holzschuhe, sondern Nike’s trug, über den Bahnsteig und war sich der Blicke wohl bewusst, die nicht nur ich ihr zuwarf.
Es gesellte sich eine Familie zu mir, die augenscheinlich nur jemanden abholen wollten, denn sie hatten kein Gepäck bei sich. Das kleine Mädchen, es mochte etwa 4 Jahre alt sein, zeigte mir stolz seine Elchsocken, die ich mit meinen blau-weißen Ringelsocken natürlich in keinster Weise toppen konnte, und fragte abwechselnd Mama, Papa und mit-wartende Oma, wann denn endlich Timo nun käme. Sie zappelte aufgeregt herum. Oma indessen beschwerte sich bei Sohnemann, dass die letzte Wagneraufführung im Fernsehen ja eine Zumutung gewesen wäre! Das Bühnenbild wäre abstoßend hässlich gewesen, so modern! Und die Sänger und Chöre im Lohengrin wären auch total hässlich gewesen. Sohn gab ihr den glorreichen Ratschlag, das nächste Mal einfach nur die Oper zu hören und das Bild wegzuschalten.
Dann endlich fuhr der von dem Elchsocken-Mädchen sehnlichst erwartete Zug samt Timo ein und Papa sprintete los, um seinen ältesten Spross zur restlichen Familie zu lotsen. Da erst sah ich, dass Timo „anders“ war, ein hübscher 16jähriger Junge mit Down-Syndrom. Er wurde von seiner kleinen Schwester stürmisch empfangen, das Drücken und Umarmen nahm kein Ende und das Mädchen wollte sich gar nicht mehr von ihm trennen. Das Wiedersehen der beiden war herzerwärmend.
Dann kam auch schon mein Zug eingefahren, und ich begab mich auf die Suche nach meinem bezahlten Platz. Der war aber schon besetzt. Der Besetzer sah seine Schuld ein und machte keinerlei Anstalten, sich mit mir um den Fensterplatz zu duellieren. Platzkarten sind eine nette Erfindung und wohl dem, der welche hat und dann auch noch im richtigen Zug sitzt. Die Züge waren generell sehr voll, jetzt nicht überquellend, aber ohne Platzkarte hätte man unter Umständen doch stehen müssen. Es quasselte hinten rechts leise auf Englisch und Holländisch und Omas spazierten mit ihren Enkelkindern durch die Gänge. Koffer wurden hin- und hergewuchtet und an vielen hing noch ein Flugzettel dran. Wo die Leute wohl überall gewesen waren? Und in ein paar wenigen Wochen würde ich erneut eine Zugreise antreten, die mich letztendlich nach Vancouver bringen wird; dann werde ich eine Riesenreisetasche durch die Zuggänge schieben und vielleicht fragen sich dann die anderen Mitreisenden insgeheim, welches Ziel ich wohl haben würde, so, wie ich es mich jetzt bei den anderen fragte.
Mit uns reiste eine völlig und in besonders intensiv strahlendes Grün gekleidete, Russisch plappernde Platzhoppserin, die die digital angezeigten Reservierungen über den Plätzen nicht begriff; demzufolge scheinbar Sitzplatzlotterie spielte und bei jedem Halt ihren Platz wieder abtreten musste, weil der Platzinhaber mit gutem Recht darauf bestand, seinen Hintern auf dem bezahlten Ledersitz abzulegen. Eine Mitreisende versuchte, ihr das Lesen der Platzreservierungsschilder beizubringen; aber ich glaube nicht, dass die Dame in Intensiv-Grün-Hose und –Jacke das begriffen hat, denn sie saß mit traumwandlerischer Treffsicherheit immer genau auf dem Platz, der schon beim nächsten Bahnhof vom Platzinhaber gestürmt wurde.
Derweil zogen Hinterhöfe und Straßen an meinem Fenster vorüber; trostlose Gewerbegebiete, umgrenzt von bunt bemalten Mauern, und kleine verträumte Villen, hinter Bäumen halb versteckt und wie Überreste aus einer längst vergangenen Epoche, rauschten vorbei. Ich sah Menschen und Autos an den Bahnübergängen warten, die keinerlei Notiz von dem ICE nahmen, in dem ich als eine von vielen Passagieren saß. Wir rasten vorbei an endlos scheinenden Wiesen und Feldern, in denen der Weizen bereits gelb stand. Ich beobachtete einen Bussard, der eine Krähe über das Feld scheuchte, grasende Rehe und stolzierende Störche; sah die Wolken über den Himmel ziehen und stellte mir vor, dass – wäre es jetzt wirklich wie im Film – bestimmt irgendwas passieren würde. Ein Flugzeugabsturz mitten auf das Feld; oder dass ein Ufo landet. Ob dann alle zu den Fenstern stürzen würden? Oder würde der ICE wie geplant seinen Weg fortsetzen und Ufos und Flugzeugabstürze ignorieren? Aber nichts geschah, es gab auch keine terroristische Schießerei im Zug und heroische FBI-Agenten, die alle retteten. Ich fuhr durch grüne Tunnel, wenn rechts und links der Bahngleise Bäume und Sträucher zu einem grünen Streifen sich vermischten, und manchmal ging komplett das Licht aus, wenn ein gemauerter Tunnel mich für Sekunden erschreckte. In meinen Ohren sangen Subway to Sally abwechselnd mit Annett Louisan.
Ich erinnerte mich plötzlich, wie ich früher als Kind meinen Kopf jauchzend in den Fahrtwind streckte und die Handflächen wie kleine Drachen im Windsog reiten ließ. Meine Haare flatterten und waren danach ganz strubbelig und zersaust. Manchmal versuchten wir auch, von den Bäumen Blätter während der Fahrt abzureisen. Aber das war früher, als die Züge noch gemütlich durch das Land bummelten. Heute bekommt man nirgends mehr ein Zugfenster geöffnet, was vermutlich auch gesünder ist, wenn so ein ICE mit bis zu 300 km/h durch Deutschland rast.
Mein jeweiliges Umsteigen klappte tadellos. Einmal saß ich im falschen Wagen aber dort auf der richtigen Sitzplatznummer, habe es aber noch gemerkt und es rechtzeitig auf den von mir gebuchten Platz geschafft, so dass mich Jo auch anstandslos finden konnte. Glücklicher Weise saßen wir ab dann ganz offiziell platzkartenreserviert nebeneinander, obwohl wir unabhängig voneinander die Bahntickets gebucht hatten.
Und so verging die Zeit noch zügiger. Mit ein bisschen Verspätung kamen wir zwar dann in Mannheim an und mussten erst einmal eine Nummer ziehen, um dann beauskunftet zu werden, dass der nächste Zug in ein paar Minuten gleich um die Ecke kommen würde.
Bei Cat angekommen gab es Kaffee und Kuchen (also Kuchen für die anderen), Erzählungen, BBQ, Fußball, Supernatural und eine Nachtwanderung und Vancouver-Routen-Besprechung nach dem Frühstück, bevor es auch schon wieder Richtung Heimat ging.
Die Rückfahrt verlief dann weniger – na, sagen wir – geplant. Es fing damit an, dass Jo im Wagen 9 saß, während ich einen weiter meinen Platz zu suchen hatte. Wir versuchten zwar, die Mit-Platzierten zu bewegen, die Plätze schlicht zu tauschen, aber die wollten nicht. So mussten wir uns schon vorher verabschieden. Zwar stieg meine Sitzplatznachbarin dann am nächsten Bahnhof aus, aber leider kamen auch ständig neue Platzierte wieder dazu.
Das erste „große“ Umsteigen auf der Heimfahrt klappte auch, ich hatte ja fast 30 Minuten dazu Zeit. Also noch eben eine geraucht, auf Toilette gesprintet, Bahnsteig gesucht, Zug und Platz gefunden, ausgebreitet … und dann ging es los:
Bzw. es ging nicht los; der Zug von Köln nach Dortmund (wo ich die herausfordernden 3 bis 4 Minuten Umsteigezeit hatte) fuhr einfach nicht los. Minute um Minute verstrich, nach 20 Minuten stand der Zug immer noch unbeweglich, niemand wusste was Genaues, ein Zugbegleiter ließ sich auch nicht blicken. Dann endlich eine hustende, nuschelnde Lautsprecherstimme, die sich ständig räusperte und gelangweilt irgendwas von Bremsproblemen faselte. Die Pausen in diesen Ansagen waren teilweise so lang, dass man nicht sicher sein konnte, ob er nicht doch mitten im Satz eingeschlafen ist. Überall wurden Handytelefonate geführt, um mitzuteilen, dass man mit der Deutschen Bahn steht und vermutlich nicht dann ankommt, wann man dachte, anzukommen. Irgendwann knackte es mal wieder in der Leitung und man vernahm die genuschelte Bekanntmachung, dass ein anderer Zug nach Hamburg in 5 Minuten von Gleis sowieso abfahren würde. Hektisch pflückten so ziemlich alle Passagiere ihre Koffer und Taschen von den Gepäckträgern, jackten sich ein und rammelten durch die Gänge. Ich auch, denn niemand wusste, ob dieser Zug jemals losfahren würde. Und Hamburg klingt ja schon mal mehr nach Norden und damit Heimat, als Köln. Doch noch hatten wir nicht die Türen erreicht, als aus den Lautsprechern nunmehr die Mitteilung knackte, dass man in wenigen Minuten doch losfahren würde. Alle rammelten ihre Taschen wieder zurück. Immerhin werden sie wohl, wie ich, Plätze reserviert gehabt haben, die dann – wenn man aus welchen Gründen auch immer den Zug wechselt – natürlich nicht mitwechseln.
Wir fuhren dann auch tatsächlich los, aber die Verspätung von 25 Minuten blieb eine Verspätung von 25 Minuten. Der Nuschler murmelte vor und nach jedem neuen Halt seine Entschuldigung für die Verspätung herunter, erst in Deutsch, dann in Englisch, und gab dann auch die nächsten Verbindungsmöglichkeiten bekannt, allerdings so stockend, zögerlich und hustend, dass ich annahm, dass er, während er in das Mikro röchelte, in einem verstaubten Kursbuch der Deutschen Reichsbahn aus Kaiser Wilhelm-Zeiten blätterte und mit seinem Finger einen antiquierten Fahrplan entlang rutschte, um die richtigen Züge und Anschlusszeiten herauszufinden. Ernsthaft: nach der 4. gerotzten Durchsage und Entschuldigung für die Unannehmlichkeit der Verspätung nervte der Kerl nur noch. Auch ließ sich die ganze Zeit kein Zugbegleiter, Aushilfsschaffner oder wenigstens ein Schienenzwerg oder so etwas blicken, den man hätte fragen können, wie es nun oder ob es überhaupt nun weiter geht und ich jemals wieder im heimischen Bett liegen werde würde können … . Außerdem versuchte ich, mein Handy zu überzeugen, sich schneller aufzuladen, denn der Versuch, über die bahneigene App herauszufinden, wann ich wohl dann von Dortmund weiter fahren könnte und wo der nächste Zug Richtung Bremen genau abfährt, kostete zwar Unmengen Akku-Leben; führte aber zu keinem Ergebnis, denn obwohl ich extra „Handy“ bei dem Sitzplatzreservierungswünschen eingegeben hatte, ließ mich die App nicht – sie ließ mich nirgends wo hin. Dann war das Höndü tot.
Aber immerhin fuhren wir noch und zwar durch Koblenz und Bingen, immer am Rhein entlang, vorbei an Burgen und grünen Weinhängen, eine traumhaft malerische Landschaft.
In Dortmund selbst war dann mein Anschlusszug wie erwartet längst über alle Berge, die Zugbegleiter des verspäteten Kölner Zuges wollten sich ebenfalls davonschleichen, aber ich lauerte denen einfach auf dem Bahnsteig auf, schnappte mir eine und bat sie, doch eben zu quittieren, dass es nicht meine Schuld war, dass ich nun leider nicht mehr die gebuchten Züge in Anspruch nehmen kann. Ich blieb auch wirklich höflich und es war mir gelinde gesagt egal, dass sie irgendwas von „Ich habe jetzt eigentlich Feierabend“ murmelte. Sie quittierte und ich suchte nach der nächsten Heimfahrmöglichkeit, fand diese auch schließlich und beorderte vorsichtshalber Knuffelchen nach Bremen, denn auf den letzten Zug hätte ich sonst wieder eine Stunde warten müssen und langsam hatte ich Hunger.
Im Zug nach Bremen saßen scheinbar überwiegend Studenten und/oder Manager, alle schwer beschäftigt und bewaffnet mit Laptops und iPhones. Ich hatte Glück und erwischte noch einen unreservierten Sitzplatz und verbrachte die Zeit lesend im Wilden Westen bei Winnetou und Old Shatterhand. Inzwischen hatten schwere stürmische Wolken das Regime am Himmel übernommen, je weiter wir nach Norden kamen; es regnete sich ein.
Letztendlich habe ich es ohne weitere Zwischenfälle nach Bremen geschafft, dort gabelten mich Knuffel und Moni bereits auf, staubten noch einen Borek ab und zu hause gab es Broccoli.
Und eigentlich habe ich jede Minute der Zugfahrt genossen und würde es wieder tun – es sei denn, ich müsste irgendwo wirklich dringend pünktlich erscheinen.
— Es folgt – so ich es hinbekomme – ein knapp 4 Minuten langes Video von vorbeirauschender Landschaft und Häuschen, wie aus einer Modellbauwelt geklaut:
[youtube]http://youtu.be/53qwyBjFcjA[/youtube]
Schön geschrieben. 🙂
Bin voriges Jahr auch mal mit dem Zug nach Bremen gefahren, und fand die 3 Stunden auch äußerst entspannend, nur die STrecke war wohl im Gegensatz zum Rhein etwas langweiliger, zudem die Scheiben ja nicht immer so zum Durchgucken einladen 😉
Schade, daß ich das BBQ bzw EUCH verpaßt hab, hatte Cat schon vorgeschlagen, vielleicht gibt es ja ein VANCOUVER NACHtreffen, wo ihr live von euren Erlebnissen berichtet, vielleicht sogar bei JO in der halbwegs güldenen Mitte?