Ein Medaillon, Witchblade und Mylord Jim

Das Unwetter begann erst richtig zu toben, als sich die Tür hinter den zwei Ankömmlingen schloss und das Rascheln ihre tropfenden Kleider durch das Zimmer glitt. Der Raum, an den wir uns vor dem Unwetter draußen geflüchtet hatten, war sehr hoch, die Decke war mit Ornamenten aus Stuck verziert, die halb verborgen in einer gewölbten Kuppel angebracht waren und aus Blumen, Krügen und verschlungenen Mustern bestanden. Ein Holzfurnier zog sich waagerecht auf Hüfthöhe entlang der Wand, teilte diese in zwei Hälften. Der untere Teil war mit dunklen Holz getäfelt, während der obere Bereich mit roter Stofftapete ausgekleidet war. An einer Wandseite, der Eingangstür entgegengesetzt, war ein Kamin eingelassen, in dem ein Feuer prasselte.  An den Wänden hingen gigantisch große Bilder und die Glasfront auf der Türseite bestand aus zusammengesetzten mittelgroßen Fenstern, deren Glasscheiben nach innen gewölbt waren und die Nacht und den Regensturm in Hunderten Facetten spiegelten. Der Boden bestand aus dunklem Parkett, das bei jedem Schritt leise knarrte. In der Mitte des Raumes stand auf einem roten Teppich ein altmodischer Schreibtisch mit zwei noch älteren Stühlen mit verschnörkelt verzierten Rückenlehnen. Eine einzige Schreibtischlampe mit rotem Schirmchen spendete, abgesehen von dem Kaminfeuer, Licht. An dem Schreibtisch saß ein alter Mann mit weißen, zersausten Haaren, tief über ein Stück Papier gebeugt zeichnend und nicht darauf achtend, wer den Raum betreten hatte. Außer dem alten Mann waren noch eine Frau und ein Mann anwesend, die am Kamin standen und grobe schmutzige Kleidung trugen. Die Frau hatte außerdem Handschuhe an, deren Fingerhüllen abgeschnitten waren, so dass ihre braunen schmutzigen Fingerspitzen daraus hervorlugten. Während sie jeweils eine Zigarette rauchten, erweckten sie den Eindruck, als würden sie auf den Bus warten und die Anwesenheit aller anderen nicht länger ertragen können. Jegliche Gespräche schienen schon vor dem Eintreffen der zwei Neuankömmlinge verstummt zu sein. Nur der alte Mann murmelte hin und wieder einen Fluch, zerknüllte ein weiteres Stück Papier, warf es achtlos von sich und begann wieder neu mit seiner Arbeit. Alles in allem schienen wir uns nicht nur an einen anderen Ort vor dem Unwetter geflüchtet zu haben, sondern auch in eine andere Zeit gereist zu sein, in einen Raum direkt aus Versailles mit Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Ich sah @Witchblade erstaunt an, aber sie zuckte nur mit den Schultern, froh, dem Unwetter entkommen zu sein. Was sollte hier schon passieren?

Wir warfen die nassen Mäntel ab und stellten uns ebenso an den Kamin, die klammen Finger dankbar für das bisschen Wärme reibend. Wieder warf der Alte ein zerknülltes Stück Papier quer durch den Raum, offensichtlich erneut unzufrieden mit dem Ergebnis seiner Zeichnung. Vorsichtig hob ich das Stück Papier auf und entfaltete es. Im flackernden Kaminschein zeigte ich Witchblade die Zeichnung: Hinter einem eisernen mannshohen Tor hatte der Alte eine Art Burgschloss gezeichnet, von zwei Türmen umrahmt. Eine Allee aus alten Bäumen mit verschlungenen verdrehten Stämmen und Ästen wie verkrüppelte Arme säumte den Weg vom eisernen Tor zur einladenden Treppe und der dahinter liegenden großen Flügeltür. Ich kannte den Ort! Neugierig hatte auch die schmuddelige Frau über meine Schulter auf die Zeichnung geblickt. Dann schüttelte sie nur abfällig den Kopf.

„Er zeichnet seit Jahren hier, und immer dasselbe! Dieses Haus da hinter dem Zaun!“ Ihr Atem roch widerlich und sie hatte kaum noch Zähne im Mund.

„Dieses Schloss oder was immer er da zeichnet, gibt es gar nicht. Niemand hat es bisher gesehen. Aber er sitzt da seit Jahrzehnten und zeichnet es immer wieder aufs Neue. Doch nie ist er zufrieden, immer fehlt ein Detail. Der Alte ist verrückt!“, mischte sich auch der Mann am Kamin ein.

Witchblade betrachtete die Zeichnung noch immer und ihr Blick wurde verträumt: „Das ist so schön!“ flüsterte sie zu mir, „Es ist, als wenn man den Wind in den Bäumen hören könnte und gleich in einem der Fenster in dem Zeichenschloss das Licht angehen würde. Es ist bestimmt schön dort, wo immer dieses Schloss auch steht!“

„Ich kenne den Ort!“ flüsterte ich zurück. „Er liegt hinter dem Kamin!“

Der Mann am Kamin spitzte seine Ohren, ich konnte sehen, wie er seinen Hals in unsere Richtung reckte, um kein Wort zu verpassen. Ich zog Witchblade mit mir weg.

Meine Hand tastete nach dem Medaillon um meinen Hals. Es fühlte sich warm an und ich wusste mit unbeirrbarer Sicherheit, dass das Medaillon gleichzeitig auch der Schlüssel war, um durch den Kamin zu jenem Ort zu gelangen, den der Alte wieder und wieder verzweifelt zeichnete. Und ebenso sicher wusste ich, dass wir dorthin allein gehen mussten, unbeobachtet.

Als ob der Mann doch mehr von unserem geflüsterten Gespräch mitbekommen hätte, begann er, Zentimeter für Zentimeter den Kamin zu untersuchen. Der Kamin selbst hatte einen Rahmen aus Zinn, ebenso wie der Rest des Raumes reich verziert und geschmückt. Plötzlich schrie er auf und hielt seine Hand in der Höhe. Sie zerbröselte zu Asche vor unseren Augen und der Mann schrie wie am Spieß lauter und lauter, seine zu Asche zerfallende Hand betrachtend. Die Frau ergriff die Flucht und rannte kreischend aus dem Zimmer, hinaus in den Sturm, der sie davon wehte und ihre Schreie mitnahm. Der Alte zeichnete noch immer, als würde er die Geschehnisse um sich herum nicht bemerken. Der Mann am Kamin war zusammengesunken, noch immer auf seine Hand starrend, die nur noch ein Stumpf war. Ich ergriff Witchblades Hand und zog sie mit mir, in der anderen das Medaillon haltend, näherten wir uns dem Kamin. Das Medaillon schien angezogen zu werden und wurde mir fast aus der Hand gezerrt, so sehr strebte es zu einer bestimmten Stelle, füllte den ausgesparten Raum aus. Kaum hatten sich Kamin und Medaillon vereinigt, fielen die roten Tapeten herunter, zerbarsten die Fensterscheiben, verschwanden Schreibtisch und alter Mann, Kamin und Unwetter. Witchblade und ich fanden uns – einander erstaunt betrachtend – in einem wundervollen Saal wieder, opulent ausgestattet mit kostbaren Teppichen, Wandbehängen, goldenen Kerzenleuchtern an den Wänden und ebenso in Gold eingerahmten Gemälden. Witchblade und ich hatten weite wundervolle Kleider an und nahmen uns an die Hände und tanzten durch die Säle, ausgelassen, fröhlich. Zu Hause. Wir tanzten über eine große Treppe mit niedrigen Stufen, die mit weichem Teppich ausgelegt waren, und unsere Stimmen und Lachen hallten in dem Raum wider. Auf der kleinen Empore stand ein Diener im Livree. Er führte seine mit einem weißen Handschuh bestückte Hand an seinen Mund, der sich zu einem nachsichtigen Lächeln verzog, während er mit der anderen Hand ein silbernes Tablett trug, auf dem das Medaillon auf einem seidenen Kissen lag. Unsere Anwesenheit war selbstverständlich. „Myladies, sie wissen doch, Seine Lordschaft wünscht Ruhe!“ Wir lachten nur und tanzten weiter durch Säle und Räume, ausgelassen wir Kinder, während unsere Kleider raschelten.

Plötzlich donnerte eine tiefe Stimme durch das Gebäude. Schuldbewusst schauten Witchblade und ich uns an, fühlten uns ertappt wie Dienstmädchen, die man erwischt hatte, vom verbotenen herrschaftlichen Wein zu kosten. Der Diener warf uns einen „Ich hatte es euch doch gesagt“-Blick zu und öffnete eine riesige zweiflüglige Tür hinter sich zu einem Raum, der ebenso warm und edel ausgestattet war, wie das gesamte Haus. Eine riesige Eichentafel, reichlich gedeckt mit silbernen Platten und glitzernden Pokalen, stand in der Mitte des Raumes und an der Stirnseite saß, flankiert von einem weiteren Diener, Jim, seinen Kopf müde in der Hand abgestützt, während er den vor sich stehenden Kelch mit dem funkelnden roten Wein unschlüssig drehte. Wir betraten mit gesenkten Köpfen den Raum. Angst verspürte ich keine, nur Bedauern, nicht ruhiger gewesen zu sein und nun die Kopfschmerzen Seiner Lordschaft herbeigerufen zu haben. Witchblade versteckte sich hinter meinem Rücken und wollte weglaufen, aber ich hielt ihre Hand. Langsam schritten wir auf Jim zu und verneigten uns. „Es tut uns Leid“ flüsterte ich in seine Richtung und wartete auf seine Reaktion. Er seufzte tief, und dann lächelte er, strich uns über die Köpfe. „Tanzt weiter, Myladies. Tanzt!“ Aber sein Lächeln wirkte müde und wir waren verunsichert, rührten uns nicht von der Stelle. Mylord Jim nahm meine Hand und sah mir in die Augen. „Würdest du diese Welt eintauschen, auch wenn du niemals mehr zurückkehren könntest? Würdest du fortgehen?“ fragte er mich und schien bekümmert. Doch ich wollte nicht aus dieser Welt verschwinden, es war mein zu Hause. Besorgt schaute ich erst Mylord und dann Witchblade an. „Würdest du gehen wollen?“ Und zu meinem Erstaunen nickte sie und ihr Gesicht hatte etwas Verletzliches, als könne sie sich nur schwer trennen, wüßte aber, dass es einen Abschied geben musste. Mylord Jim nahm auch ihre Hand und seine Augen schimmerten feucht. „Ich weiß, dass ihr gehen werdet. Aber ich muss bleiben!“ Der Diener brachte das Medaillon auf dem Tablett und Jim ergriff es. An einer schwarzen Samtschnur ließ er es ein paar Sekunden vor uns schwingen. Mit untrüglicher Sicherheit wusste ich, dass eine einzige Berührung des Medaillons ausreichen würde, mich wegzutragen, in eine andere Realität, in eine andere Welt. Ich wich einen Schritt zurück, wich dem hingehaltenen Schlüssel aus. Witchblade jedoch griff zu, und sobald sie das Amulett berührte, verblasste sie, löste sich auf, während sie unter Tränen lächelte und ihre Augen um Verzeihung baten. Dann war sie verschwunden und fragend blickte ich Mylord an, hoffend auf eine Erklärung. „Wir alle müssen ein bestimmtes Leben führen!“ antwortete er auf meine unausgesprochene Frage und lächelte.

„Werde ich sie wiedersehen?“

„Ja, das wirst du!“ versprach er mir, und ich glaubte seinen Worten, noch traurig über ihr Weggehen, und doch spürte ich auch Zuversicht, dass ihre Entscheidung für sie die richtige war.

Szenenwechsel

Ich saß, in einem mausgrauen Umhang gehüllt, unauffällig in einem winzigen Café, das wie ein Zugabteil eingerichtet war. Niemand nahm Notiz von mir, das ab- und anschwellende Gesprächsgewirr drehte sich um den Lord aus vergangenen Zeiten. Verstohlen lauschte ich den Gerüchten, meine Hände berührten das Medaillon um meinen Hals. Plötzlich verstummten die Gespräche und alle Blicke wandten sich nach draußen, wo auf einer großen weißen Treppe ein Brautpaar erschien, flankiert von Menschen. Ich erkannte Witchblade, auch wenn sie etwas älter geworden schien. Sie lächelte und sah traumhaft aus in dem weißen Brautkleid. Verliebt blickte sie zu dem Mann an ihrer Seite auf, der ihre Hand hielt. Sie sah mich nicht und ich gab mich nicht zu erkennen, sondern berührte das Medaillon erneut, um zurückzukehren.

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2 Antworten zu Ein Medaillon, Witchblade und Mylord Jim

  1. Witchblade sagt:

    Du bist ja goldig.
    Hast Du vielleicht gesehen, wie mein Mann ausgesehen hat?? *grins*

    Ich hätte gern unsere Kleider gesehen.

    Klang sehr schön, dort wo wir waren 🙂

  2. N. sagt:

    wow, wie krass. Ich liebe Deine Geschichten, Du hast unglaublich viel Phantasie. Toll!!!!!!!

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