Hagebutten-Zeit

Sophie klammerte sich an den Rücken ihres Vaters, roch den wundervollen Duft seiner Lederjacke und genoss den Fahrtwind, der ihr unter den noch etwas zu großen Helm kroch und ein angenehmes Kribbeln auf ihren Beinen hinterließ. Bäume, Wiesen und Felder rauschten links und rechts vorbei. Sie unterdrückte ein glückliches Jauchzen, wenn ihr Vater das Motorrad sanft in eine Kurve legte, denn sie wollte ihn nicht in seiner Konzentration stören. Behutsam legte sie sich mit in die Kurve, verspürte keine Angst, nur Geborgenheit und Vergnügen und Freiheit. Sie wünschte sich, ewig so mit ihrem Vater durch die Heimat fahren zu können.

Sie waren an diesem Spätsommernachmittag an den Waldrand gefahren, ein paar Ortschaften weiter. Der Weizen stand goldgelb und voll, wiegte sich im leichten Wind. Dunkelrote Klatschmohnblüten lugten aus dem gelben Meer wie Farbkleckse. Ziel ihres Motorradausfluges waren diverse Hagebuttensträucher und mit Kamillenblüten gesäumte Hänge an entlegenen Bahnstrecken, die ihr Vater gut kannte. Sie hatten zwei Körbe mitgenommen und Sophie pflückte zufrieden neben ihrem Vater die dunklen Hagebuttenbeeren, sich nicht um die Kratzer scherend, die ihr so mancher Strauch dabei verpasste. Außerdem sammelten sie Holunder und Sophie freute sich bereits darauf, mit Vater den Holunderlikör anzusetzen. Die Kamillenblüten würde Vater später auf der großen Terrasse ausbreiten und trocknen lassen, um daraus seine Wundercreme herstellen, die gegen alle Arten von Wehwechen half. Vater lehrte sie, wie sie echte von unechter Kamille unterscheiden konnte und wie nützlich diese Blüten waren.

Sophie liebte diese Ausflüge, auch wenn sie eigentlich Arbeit bedeuteten. Sie liebte es, wie ihr Vater vergnügt ein Lied pfiff und ihr in den Pausen beibrachte, auf einem Grashalm zu pfeifen. Manchmal schnitzte er ihr auch aus frischen Weidenästen eine kleine Flöte, während Sophie aus den Wiesenblumen Kränze flocht und diese in ihr blondes Haar band. So verging der Nachmittag, der Abend setzte ein und die beiden Körbe waren bald reichlich gefüllt mit Hagebutten, Holunderbeeren und Kamillenblüten. Auch ein paar Wiesenchampignons hatten den Weg in die Körbe gefunden und würden für das Abendbrot reichen.  Sophie bedauerte, schon jetzt nach hause fahren zu müssen, viel zu selten hatte sie den Vater für sich allein, viel zu selten waren sie sich auf diese Art nah.

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Eine Antwort zu Hagebutten-Zeit

  1. N. sagt:

    ich habs schon gesagt, aber ich muss es wieder sagen: ich liebe deinen schreibstil so sehr. die art, wie du die kleinen details beschreibst, sind genau mein ding. auch, wenn manche geschichten traurig sind, sie sind dennoch sehr schön. hört sich jetzt blöd an, aber ich hoffe, du weißt, wie ich es meine.

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