Hochhausfliegerengel

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich mich in einem gigantischen Marmorprunksaal gewähnt. Vielleicht in einem alten Schloss, Versailles etwa, obwohl ich nie dort war. Alles schien aus glänzendem Marmor zu bestehen: Der Fußboden in großen Fliesen spiegelte warmes Licht von Laternen und Kronleuchtern. Säulen ragten in eine Decke, die mit weißem Stuck verziert war. Übergroße Gemälde hingen in goldenen verschnörkelten Rahmen an den Wänden. Die Wände selbst waren eher planlos in dem gigantischen Raum verteilt, Prunksaalraumteiler sozusagen. Und überall wuselten Menschen wie Ameisen herum. Geschäftig liefen sie wie selbstverständlich durch die Marmorpracht wie durch eine Bahnhofshalle. Manche standen in Grüppchen zusammen und schienen auf etwas zu warten.

Ich hatte es eilig. Irgendwie scheine ich es in meinen Träumen in letzter Zeit immer eilig zu haben. Zielstrebig steuerte ich links an einer Wand mit eben einem dieser Gemälde vorbei und schlitterte über eine winzige Marmortreppe um die Ecke. Wie erwartet sah ich das Schwimmbecken. Das blaue Chlorwasser stand still. Niemand war im Wasser. Meine Familie entdeckte ich an einem Tisch, wobei meine Tochter erheblich jünger geworden war.  Sie schleckte Eis. Mein Mann winkte mir zu. Ich lief auf sie zu und

….

kam nie bei ihnen an. Sie verschwanden wie das Schwimmbad und der Marmorprunksaal. Ich stand auf einer Straße. Eine gemütliche Straße mitten in einer kleinen spießigen Stadt mit Park und Marktplatz, die ich nie zuvor gesehen habe. Es schien Mittag zu sein, die Sonne stand hoch und auf dem einzigen Hochhaus, das gleißend das Mittagssonnenlicht zurück auf die Straße warf und mich blinzeln ließ, stand ein Mann. Nein, kein Mann, ein Engel. Gabriel! stellte ich fest, als ich genauer hin sah. Aber er war seltsam gekleidet: Er trug einen silbernen Ganzkörperanzug und darüber kurze goldene Hosen. Gabriel sah albern aus, und er schien es auch zu wissen, dass es albern aussah. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Ich hörte ihn seufzen und dachte bei mir: Er wird doch nicht?! Aber er tat! Er breitete die Arme aus und stürzte sich von dem Hochhaus. Sein silbernes Ganzkörperkondom glitzerte im Sonnenlicht. Es sah für einen Moment lang hübsch aus. Bis er unten aufschlug. Platt wie eine Engelflunder im falschen Supermannkostüm. Ich rannte zu ihm. Er blinzelte mich benommen an und murmelte ein Hallo! Danach folgte ein sehr verständliches FUCK! Dann fiel Gabriel erneut in Ohnmacht. Ich sagte auch: Fuck!, und schleppte den gefallenen Engel in meine alte Altbauwohnung. Dort wartete bereits Bobby, der – wie ich mit einem Blick feststellte – meine Küche mit Spiegeleiern ruiniert hatte. Aber ich hatte keine Zeit, darüber rumzumotzen. Bobby sah mich und den ausgeknockten Silberengel fragend an und räumte das Sofa frei, auf das ich Gabriel fallen ließ. Bobby stellte mir ungefragt ein Glas mit braunen Inhalt hin, das ich wie selbstverständlich in mich hineinkippte.

„Wo hast du den denn gefunden?“ wollte Bobby wissen.

„Der ist mir vor die Füße gefallen!“ erklärte ich. „Hast du eine Ahnung, wieso die Engel sich sinnlos von Hochhäusern stürzen und dabei auch noch so alberne Kostüme tragen?“

Bobby hatte keine Ahnung, zuckte nur mit den Schultern und verschwand aus dem Raum. Ich setzte mich zu Gabriel und hielt ihn mein Glas unter die Nase. Davon wurde er wach. Er hustete und schaute an sich hinunter. Er sah immer noch dämlich aus in dem silbernen Anzug mit dem goldenen Höschen um die Hüften. Gabriel fasste sich an den Kopf und stöhnte. Ich musste lächeln bei dem Anblick, ein bisschen erinnerte er mich an mich selbst, wenn ich nach durchzechten und durchtanzten Partynächten aufwachte.

„Wieso springst du in diesem albernen Sachen von einem Hochhaus?“ wollte ich wissen, als Gabriel halbwegs wieder in der Lage zu sein schien, Worte herauszubringen.

„Da war diese Bank …“ nuschelte er, „darauf saßen Zombies. Sie fütterten eine Katze mit Weißbrot!“

Er sagte es in einem Tonfall, als würde das alles erklären. Es erklärte natürlich gar nichts.

Bobby kam wieder zu uns und brachte dem platten Gabriel anständige Kleidung – nämlich eine seiner Baseballmützen.

Gerade wollte ich Bobby nach dem mythologischen Zusammenhang von Zombies, Weißbrot und Hochhausfliegerengeln fragen

da spielte das Höndü Brothers in Arms von den Dire Straits. Ihr müsst euch also selbst einen Reim darauf machen.

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