Schleedornzauberbeeren-Magie

Ich hatte ja versprochen, noch den letzten wunderbaren Traum zu erzählen:

Traumzauberbeeren

Rotgolden strahlte die Abendsonne über die Dächer. Ich stand auf einem Hochhausdachgarten und blickte auf die Lichter der Stadt unter mir. Aus dem Wohnzimmer erklang sanfte Musik und undefinierbares gedämpftes Stimmengewirr. Erwartung breitete sich aus; denn ein Geschichtenerzähler würde in wenigen Augenblicken beginnen, uns eine wunderbare und fantastische Erzählung in seiner eigenen Art zu präsentieren. Ich freute mich darauf und setzte mich in einen gemütlichen Korbsessel auf dem Dach. Ich fühlte mich wohl. Im Sonnenlicht funkelte der Wein in meinem Glas und ich steckte in einer wollig warmen Decke.

ER setzte sich neben mich, ohne ein Wort zu sagen. ER brauchte nichts zu sagen, ER empfand wie ich und ich spürte es.

Der Geschichtenerzähler, ein alter Mann mit weißen Haaren und einem ebenso weißen Vollbart, begann mit tiefer angenehmer Stimme seine Erzählung. Die Musik aus dem Wohnzimmer verstummte, immer mehr Menschen setzten sich um den Mann herum und lauschten fasziniert. Ich wünschte mir, ewig sitzen bleiben zu können, in der Abendsonne, mit dem funkelnden Weinglas, auf der Dachterrasse, neben IHM.

Für einen Moment schloss ich die Augen, saugte den Augenblick förmlich in mich ein …

Doch als ich die Augen wieder öffnete, waren der Geschichtenerzähler, die Dachterrasse, das Weinglas, ja sogar die Abendsonne und vor allem ER verschwunden. Selbst die Zeit erschien mir falsch. Ich trug graue, grobe Kleidung und starrte auf eine gigantische alte Standuhr, die gerade 9 mal schlug. Verwirrt versuchte ich mich an das Geschehene zu erinnern, aber so sehr ich mich auch anstrengte, der Geschichtenerzähler und die Dachterrasse verblassten immer mehr. Was blieb war das Gefühl, etwas verloren zu haben. JEMANDEN verloren zu haben.

Doch ich hatte keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken. Der Gong der Wanduhr mahnte mich, meinen Pflichten nachzukommen. Ich lief durch ein dunkles, nach altem Holz riechendes Gebäude mit verschlungenen Gängen und Holztüren. An der Wand hingen Kerzenleuchter. Elektrisches Licht gab es nicht und die Einrichtung erschien mir antik. Ich beeilte mich, denn wenn ich meine Aufgabe nicht rechtzeitig erfüllen würde, drohte mir eine Strafe. So rannte ich durch die verwinkelten Gänge des dunklen alten Hauses, lief endlos scheinende Treppen erst herunter und andere dann wieder hinauf und erreichte schließlich zwei große Eichenholztüren. Sie waren beide gigantisch groß und übermächtig und reich mit Schnitzarbeiten verziert. Mein Ziel, so wusste ich, lag hinter der linken Tür. Die andere war strengstens verboten; und doch zog mich diese Tür magisch an. Ich drehte den Messingknauf. Überrascht stellte ich fest, dass sie entgegen meiner Erwartung nicht verschlossen war und fast lautlos und wie von selbst aufschwang. Ich zögerte keine Sekunde und schlüpfte hinein.

Vor mir lag ein unendlich scheinender Dachboden. Balken hingen von den niedrigen schrägen Decken. Spinnweben rankten sich an allen Wänden und Ecken und Staubkörner tanzten im spärlichen Licht, das durch die Dachritzen fiel. Überall standen Regale, auch frei im Raum verteilt, und voll gestopft mit Büchern und alten Leuchtlampen, Kugeln und seltsamen Kisten aller Größen. Das Merkwürdigste und Schönste jedoch waren die glitzernden Schleedornsträucher, die sich überall an den Regalen entlang wie ein kleines Labyrinth schlängelten. Ihr Grün war so frisch und strahlend und dazwischen glitzerten Millionen Beerenperlen wie Schnee im Sonnenlicht. Es sah so wundervoll aus! Ich ging den funkelnden Schleedorn-Regalweg entlang und wann immer ich mit meinen groben grauen Kleidern an einen Beere stieß, erklang ein zauberhafter heller Glockenton und begleitete mich, vermischte sich mit dem nächsten zu einer wundersamen fröhlichen Melodie.

Ich hatte meine Aufgabe völlig vergessen und erreichte ein kleines Fensterchen. Um hindurchschauen zu können, musste ich mich hinhocken. In der Ferne erspähte ich einen gefrorenen See, auf dem sich Menschen tummelten, die von hier aus winzig aussahen. Sie liefen Schlittschuh. Die Abendsonne ließ das Eis funkeln.

Und plötzlich erinnerte ich mich an das „Früher“, an die Hochhausterrasse, den Geschichtenerzähler, das Weinglas und an IHN. Ob er wohl jetzt da draußen bei den Schlittschuh laufenden Menschen war? Ich konnte es nicht erkennen, so sehr ich mich auch anstrengte, IHN zu finden.

Urplötzlich jedoch, mit der einsetzenden Erinnerung, brach eine Wasserflut auf dem Dachboden aus. Die labyrinthischen Gänge verwandelten sich in Flüsse und die Wasserfluten rissen mich von dem kleinen Fenster weg; in Strudel und Abgründe, die ich nicht aufhalten konnte. Weiße Schleedornperlen wirbelten mit dem Wasser um mich herum wie Schneekrümel in einer Schneekugel. Ich fiel endlos …

und fiel … und fiel … Alles drehte sich um mich und ich hatte längst jegliche Orientierung verloren. Doch ich verspürte nicht den Hauch einer Angst, nur maßloses Erstaunen. Schließlich schienen die Fluten, die mich mitgerissen hatten, etwas langsamer zu werden, doch noch immer schaffte ich es nicht, mich aus ihnen zu befreien. Steuerlos trieb ich mit ihnen durch die Gänge des dunklen Hauses, vorbei an der großen Standuhr, die anklagend gongte.

Dann packten mich zwei starke feste Hände und zogen mich sanft aus dem Wasser. Ich blickte in SEINE lächelnden Augen. ER hatte den Weg zu mir gefunden, zur rechten Zeit. ER zeigte auf einen Gang, der mit Schleedornperlen übersäht war, und ich verstand – die Beerenperlen hatten IHN zu mir geführt.

Vor uns öffnete sich eine Tür; durch die wir gemeinsam das seltsame alte Haus mit seinem merkwürdigen Dachboden und der klagenden Standuhr verließen. Wir „materialisierten“ in einem gemütlichen irischen Pub. Ein Kaminfeuer verbreitete wohlige Wärme und die Gäste lauschten einem Geschichtenerzähler. Wir waren zu Hause. In unserer Zeit. Und ER war immer noch bei mir.

– und das war seit Langem, trotz der Wasserflutenwildwasserfahrt, einer der schönsten Träume, die ich jemals hatte. Danke, Mr Sandmann. 🙂

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Eine Antwort zu Schleedornzauberbeeren-Magie

  1. Ginny sagt:

    wow. . . .*sowas oder ähnliches auch träumen will*

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