Das Gefühl von Freiheit unter den Sternen

Der Zug ratterte durch die Nacht. Sophie saß allein in dem Abteil. In ihre Filzdecke gehüllt, schaute sie in die scheinbar vorbeirasende Dunkelheit. Lichtfetzen blitzen von Zeit zu Zeit auf, erleuchtete Fenster, Straßenlaternen, Autos. Ansonsten schlief die Welt. Obwohl Sophie müde war, wollte sie die Augen nicht schließen. Sie wollte jeden Augenblick dieser Nacht in sich einsaugen, festhalten, in ihrem Gedächtnis archivieren.

Sie fuhr an die Ostsee. Zum ersten Mal ganz allein, und ohne zu wissen, wo ihr Ziel sein würde. Einfach nur an das Meer; jetzt, wo sie 18 Jahre alt geworden ist und somit vor dem Gesetz volljährig. Niemand konnte es ihr mehr verbieten, ans Meer zu fahren. Sie wollte das Meer sehen. Jenes Meer und seine Küste, in das sie sich als Kind zum ersten Mal während der 6-wöchigen Kur verliebt hatte.

Sophie wusste nicht, ob sie mit den 100 Mark, die sie sich von ihrem Geburtstag noch aufgespart hatte, reichen würde. Ihr Geburtstag im Januar. Wehmut stieg in ihr auf. Ihr 18. Geburtstag! Wie hatte sie ihm entgegengefiebert! Doch als er dann da war, nahm kaum jemand davon Notiz. Elvira hatte ihr nach dem Mittagessen 100 Mark lieblos zugeschoben und sie dann aus der Wohnung gescheucht, sie wolle jetzt ihre Ruhe haben. Ihr Vater war wie immer früh aus dem Haus gegangen und würde erst spät abends müde und erschöpft von seiner Arbeit nach Hause kommen. Wie immer. Freunde durfte sie keine einladen. Wieder seufzte Sophie.

Aber nun war sie 18; und als sie zu Beginn der Sommerferien dem Vater und Elvira verkündete, sie würde ans Meer fahren, konnten sie es nicht mehr verbieten. Und so hatte sie das Nötigste, von dem sie annahm, dass sie es brauchen würde, in einen Rucksack gestopft und hatte den ersten Zug genommen, der Richtung Ostsee fuhr. Ein wenig aufgeregt war sie schon.

Das Meer empfing sie so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie lief den menschenleeren Strand entlang, atmete die würzige Luft ein und sang laut gegen den Wind an. Sie hätte stundenlang so laufen können, abseits der Touristenstrände und den Feriengästen und Urlaubern. Doch langsam setzte die Dämmerung ein und sie brauchte einen Schlafplatz. Sophie beschloss direkt am Strand zu schlafen. Die Nacht war lau, sie hatte ihre Filzdecke mit … es würde schon gehen. In einer kleinen abgelegenen Bucht fand sie einen geeigneten Platz. Sie sah auf das Meer, die untergehende Sonne, nippte an ihrem Getränk und aß von dem eingekauften Proviant. Vielleicht würde es nachts doch zu kalt werden. Aber das konnte sie nun nicht mehr ändern; es würde schon gehen.

Eine Gestalt kam auf sie zu. Ein Mann mit langen Haaren, mit einem gigantischen Rucksack auf seinem Rücken. Er war jung, und Sophie glaubte, dass auch er noch bis eben gegen den Wind angesungen hatte. Er sah Sophie dort sitzen und wollte schon weiter gehen, als er es sich doch anders überlegte. Für einen kleinen Moment überfiel Sophie Panik. Was, wenn …? Der Mann kam auf sie zu und Sophie ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben. Der Mann lächelte, wünschte einen schönen Abend und fragte, ob er sich mit niederlassen dürfe. Sophie lächelte und nickte. Er stellte seinen Rucksack ab und rieb sich die Hände. „Es wird doch frisch“, sagte er. „Ein Feuer wäre sicher gut.“ Ein Feuer wäre wirklich keine schlechte Idee, dachte Sophie, der inzwischen doch ziemlich kalt war. Noch immer rauschte das Meer.

Der Mann stellte sich als Alex vor; und gemeinsam beschlossen sie, Feuerholz zu sammeln und eine Feuerstelle zu errichten. Alex baute sein Zelt etwas abseits auf, während Sophie in seinem blechernen Kessel Tee kochte. Dann saßen sie um das flackernde Feuer, blickten auf das Meer und die Sterne; überwältigt und für Momente sprachlos ob deren Pracht und Unendlichkeit. Sie tranken gemeinsam den Tee und erzählten sich gegenseitig die halbe Nacht aus ihrem Leben. Sophie hörte staunend Alex zu, genoss seine Stimme und hörte zum ersten Mal in ihrem Leben etwas über New Age und dass Seelen wie Energie seien – frei wie die Sterne. Alex‘ Einladung jedoch, die Nacht mit ihr in seinem Zelt zu verbringen, lehnte sie ab. Das Feuer und ihre Filzdecke würden ausreichen. Und unter den funkelnden Sternen und mit dem Rauschen und dem Duft der Ostsee schlief sie unbesorgt nah am Feuer liegend ein. Sie fühlte sich freier denn je.

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