Kartoffel-Stunden

Sophie und Marco kannten sich seit der ersten Klasse. Sophie mochte den schüchternen, etwas pummeligen Jungen, der von den anderen oft gehänselt wurde. Als Sophie’s Mamutschka starb, erdrückten Lehrer, Nachbarn und die Eltern der anderen Schüler, die davon erfahren hatten, das kleine zierliche Mädchen mit ihrem Mitleid und Bedauern und fast schien es ihr, als würden all diese Menschen auf Sophie’s Zusammenbruch warten. Doch Sophie brach nicht zusammen. Sie trauerte auf ihre Weise, still und allein. Manchmal brauchte jedoch auch sie jemanden, der sie in dieser stillen Trauer verstand. Sophie fand ihn in Marco. Auch Marco hatte seine Mutter früh verloren, doch im Gegensatz zu Sophie schien das niemanden zu interessieren. Seine Familie hatte keinen guten Ruf in der Dorfgemeinschaft, sie galten als Außenseiter und Eigenbrödler. Sophie interessierte das jedoch wenig, sie mochte den in sich gekehrten Jungen, und er erdrückte sie nicht, sondern saß schweigend neben ihr. Neben ihm konnte sie sogar weinen. Sophie und Marco wurden Freunde, ohne dass sie das zuerst merkten. Doch wann immer der eine Kummer oder Ärger hatte, suchte er die Nähe des anderen, um Trost zu finden. Sophie war nach Elviras Einzug in die väterliche Wohnung fast täglich bei Marco zu hause.

Marco wohnte mit seiner Familie in einem ärmlichen Haus, direkt neben der Schule und nah am Friedhof. Er hatte  kein eigenes Zimmer, die Schulaufgaben erledigten sie gemeinsam in der „guten Stube“, wie sie jede Wohnung hatte. Das „gute“ Zimmer, in dem Gäste emfpangen wurden, das immer ordentlich und sauber war, ohne Alltagsspuren und in dem die Kinder eigentlich nie spielen durften. Marco war sehr besorgt um Sophie. Er belud den Ofen, bis dieser mollige Wärme abgab. Immer lag eine Tüte Knusperflocken auf dem Tisch, die Sophie so sehr mochte, wie Marco wußte, und Cola, die Sophie zu hause nicht trinken durfte. Wenn Sophie ein bestimmtes Lied mochte, besorgte Marco die entsprechende Platte ein paar Wochen später, und legte sie lächelnd auf den Plattenteller. Wenn Sophie dann das Lied erkannte und ihn überrascht ansah, betörte ihn ihr aufrichtiges Lächeln und er drehte sich verlegen weg.

Sophie half Marco bei seinen täglichen Aufgaben, schälte mit ihm die Kartoffeln für die Stallkaninchen, saugte das Wohnzimmer oder wischte die Treppe. Wenn wir das gemeinsam machen, sind wir auch schneller fertig! überredete sie ihren Freund, und er ließ sich gern überreden. Wenn Sophie bei ihm war, hatte er gute Laune. Sophie liebte am meisten die Nachmittage in Marcos Küche, wenn es nach gekochten Kartoffeln roch und er unaufhörlich über die Kaninchen plapperte, nur, um überhaupt etwas zu sagen. Manchmal beschlossen sie, zusammen wegzulaufen. Doch dann blieben sie einfach an dem großen Kachelofen sitzen, schweigend und Sophie streichelte den Mischlingshund. Wo sollten sie schon hinlaufen? Sophie bemerkte nie diesen besonderen Ausdruck in seinem Blick, wenn Marco sie verstohlen anschaute. Hätte sie es bemerkt, hätte sie vielleicht verstanden, warum die Kartoffelnachmittage plötzlich endeten. Marco war ihr bester Freund, sie erzählte ihm einfach alles, auch, als sie sich in Stephan verliebte. Dass sie mit diesem Geständnis eine verborgene Hoffnung zerbrach, ahnte sie nicht – und es wurde ihr erst 30 Jahre später bewußt.

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2 Antworten zu Kartoffel-Stunden

  1. N. sagt:

    oops, zu früh abgeschickt. das ist aber ne traurige geschichte. schön, aber auch traurig. hach.

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