Seerosenfliesenzimmer

Die Reise stand bevor und ich war aufgeregt, ich hatte alles gepackt in einen riesigen Rucksack. So viel hatte ich gehört von dem fremden Land und seinen magischen Landschaften. In einem Hotel würde es noch einen Zwischenstopp geben für eine Nacht. Dort würden die Pässe eingesammelt werden und am nächsten Morgen ginge der Flieger …

Das Hotel, in dem wir untergebracht waren, bestand aus einer riesigen Treppe, die sich in die Höhe wandt. Seitlich von ihr abzweigend in unterschiedlichen Höhen wie Seerosenblätter kleine Balkonzimmer, die nur so groß waren, dass eine Liegestatt hinein passte. Kissen und Decken waren überall verteilt und obwohl der Boden wie Fliesenbelag glitzerte, war er weich und sanft. Wände gab es keine, sondern man blickte auf Meer, Berge und noch mehr Sterne. Ich schlief geborgen ein.

Am nächsten Morgen dann der Schock! Ich hatte meinen Pass vergessen! Statt dessen hatte ich den grünen, bereits leicht zerfledderten Impfpass meiner Mutter bei mir. Damit würde ich die Reise nicht antreten können. Ich überlegte hin und her, wie ich an meinen Pass noch kommen könnte, aber wie ich es auch anstellen würde: es war keine Zeit mehr und der Flieger hob bereits ab. Ich war gestrandet im Seerosenblatthotel.

Wenn ich schon hier war, konnte ich sicherlich auch die Gegend erkunden. Und am nächsten Morgen entdeckte ich dann auch in der Ferne den braunen Tempel, in Felsen eingelassen. Eine gewaltige steinernde Treppe führte zu seinem Eingang. Da wollte ich hin! Doch mich trennte ein Fluss. Über den Fluss schipperten kleine Boote, und die Menschen an Bord waren freundlich. Ich half Netze flechten, aber ich verknotete sie mehr, als dass ich sie flickte. Der alte Kapitän lachte nur milde und zeigte es mir erneut, und noch einmal, und noch einmal. Dabei erzählte er mit einer sanften Stimme in einer Sprache, die ich nicht verstand, und zeigte auf die Tempeltreppe.

Irgendwann verließ ich das Boot und machte mich daran, die Treppenstufen zu erklimmen. Stufe für Stufe, anstrengend, Scheinbar unendlich schien der Eingang entfernt, und so kletterte ich weiter, Stufe für Stufe für Stufe, immer wieder an mir zweifelnd, ob ich es schaffen würde, aber zu neugierig, um aufzugeben. Und wo sollte ich auch hin? Mittlerweile war es nach unten genau so weit wie nach oben. Also erklomm ich weiter den Tempel und wunderte mich, warum ich das ganz alleine tat. Niemand außer mir war auf den Treppenstufen. In Verschnaufpausen sah ich hinunter auf den Fluss und seine Boote, wie Spielzeugschiffchen schaukelten sie auf den Wellen. Ich sah das Seerosenzimmerhotel hinter dem Fluss … und kletterte weiter. Und weiter, Und ich kletterte. Stufe für Stufe für Stufe.

… und dann kam ich an den Eingang des Tempels, die letzte Stufe hinter mir lassend. Es gab keine Türen, sondern nur einen großen Torbogen, der in Dunkelheit führte. Keine Geräusche, kein Leben, nur Felsen und Stufen unter mir und das Dunkel vor mir. Und ich ging hinein, folgte der Dunkelheit und der Stille und spürte …

so gar keine Angst, kein Unbehagen, nur Neugier und Bereitschaft, neues Wissen aufzusaugen. Und dann wusste ich – plötzlich -, als wenn ein Vorhang von unsichtbarer Hand gelüftet wurde, dass dieser Tempel nach dem Polarstern ausgerichtet worden ist und immer dessen Licht folgt; dass nach der Dunkelheit etwas anderes ist, das weder dunkel noch hell ist, kein Felsen, kein Wasser, mehr als ein Gedanke und alles beinhaltend und mehr. Dass der Weg dahin noch mehr Stufen und Zweifel und Anstrengung bedeuten wird, aber es nur diesen Weg für mich gibt, das ihn alle gehen, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten … aber alle den selben Weg; und wenn man ab und an zurückschaut, sieht man glitzernde Seerosenblätterliegewiesen und Boote auf dem Fluss und andere, die folgen werden.

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