Hinter dem Bild

Manchmal sind Träume einfach nur Träume, verarbeitete Eindrücke des Tages. Manchmal vergesse ich sie sofort nach dem Aufwachen. Manchmal aber bleiben sie präsent. So wie der letzte. Ich habe keine Ahnung, wo Sherlock Freud die Ursprünge des Folgenden bei mir suchen würde. Ich fange einfach mal an, ihn so detailliert wie möglich zu beschreiben.

Der kleine Junge, er mochte vielleicht 5 oder  6 Jahre alt sein, hatte dunkle, strubbelige Haare und große Augen. Er saß allein an einem riesigen schwarzen Eichentisch, eine Zeitschrift vor ihm, in der er blätterte. Er war still und in sich gekehrt und allein in dem trist eingerichteten Raum, der zu einem Kinderheim gehören musste. Die Wände waren grau, die Tapeten alt und zerschlissen und das Zimmer düster, trostlos und kalt. Ich fühlte mich jedoch nicht fremd in den Raum, er war mir vertraut, ich kannte ihn und meine Anwesenheit hier schien normal und richtig zu sein. Ich setzte mich zu dem Jungen an den Tisch, der bei meinem Eintreten den Kopf hob und ein ganz klein wenig lächelte, aber kein Wort sprach. Ich strich ihm sanft über die Haare und er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Wir schwiegen. In der Zwischenzeit betraten noch andere Leute den Raum, Kinder, die an uns vorbei rannten und sich lachend in einer Ecke versammelten, um zu spielen. Weitere Frauen kamen herein, nickten mir freundlich zu und setzten sich an einen anderen Tisch, tranken Kaffee und beachteten uns nicht weiter. Alles fühlte sich so alltäglich und normal an.

Plötzlich konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf eine der Frauen, die Fotos herumreichte, die bei den anderen „hach“ und „oooh, wie schön!“-Ausrufe auslösten. Auch die anderen Kinder gesellten sich schnell zu der Frau mit den Fotos, umstanden sie wie ein Schwarm und plapperten und kicherten vergnügt.

„Möchtest du auch die Bilder sehen?“ fragte ich leise den kleinen Jungen an meiner Seite.

Er schaute mich mit seinen dunklen Augen an und schüttelte den Kopf. Sein Lächeln war verschwunden.

„Das ist bestimmt lustig!“ versuchte ich ihn umzustimmen. Noch immer flüsterten wir und das Lachen vom anderen Ende des tristen Raumes wogte wie eine Welle durch die Luft. Alles in mir drängte danach, zu ihnen hinzugehen und mir die Bilder anzusehen, doch wollte ich auch den kleinen Jungen an dem übergroßen Tisch nicht allein lassen.

„Es ist nicht lustig“ antwortete mir leise der Junge, „Ich mag sie nicht sehen!“

Ich verstand nicht, aber ich fühlte den Schrecken in der Stimme und er tat mir leid. Fragend schaute ich ihn an und er schob mir seine aufgeschlagene Zeitschrift hin. Über zwei Seiten war ein schwarz-weiß-Foto abgebildet, das einen kleinen chinesischen Jungen zeigte, der hinter einer Fensterscheibe saß und lachte. Vor dem Fenster saß ein alter Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass man seine Augen nicht erkennen konnte. Zu seinen Füßen sprang ein Jack Russell Terrier nach einem Ball.

Ich betrachtete das Foto und fand nichts Bedrohliches daran, es war für mich ein Foto, wie andere auch. Kurz fragte ich mich, wer wohl der kleine Junge hinter der Fensterscheibe sein mochte, warum er da saß und in welcher Beziehung er zu dem Mann mit dem Hund stand. Doch die Bildbeschreibung zu dem Foto am Rand war in Chinesisch, ich konnte sie jedenfalls nicht lesen.

„Das ist ein hübsches Foto. Der kleine Hund ist sehr niedlich, wie er mit dem Ball spielt!“ kommentierte ich das Bild.

„Nein!“ flüsterte der Junge zurück. „Kannst du es nicht sehen? Der Junge hinter der Scheibe ist unglücklich. Er hat keine Eltern mehr und hungert. Er muss den ganzen Tag arbeiten und ist dabei so müde. Und der alte Mann quält den Hund wenn niemand hinsieht. Er ist böse.“

Für einen Moment war ich sprachlos. Ich starrte auf das Foto, das noch immer den lachenden chinesischen Jungen, den alten Mann und den Hund zeigte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich fühlte mich unbehaglich.

„Woher weißt du das?“ fragte ich den Kleinen leise und ahnte die Antwort bereits.

„Sie verändern sich! Wenn ich lange genug auf die Bilder schaue, fangen sie an, sich zu bewegen“ erklärte er mir und seine Stimme wurde noch leiser, kaum wahrnehmbar. „Ich sehe dann die wahre Geschichte, wie der Junge wieder weint und der alte Mann nach dem Hund tritt.“

Wieder betrachtete ich das Foto und versuchte zu verstehen. War es möglich, dass hinter den eingefrorenen Momentaufnahmen mehr zu sehen war, als beim ersten Hinschauen? Wieder überlief es mich kalt. Ich wollte aufstehen und weglaufen und gleichzeitig noch immer nicht den kleinen Jungen verlassen. Mit einer Hand wischte er über das Foto, und dann konnte ich es auch sehen: Den weinenden Chinesen-Jungen. Ich hörte sogar das schmerzliche Fiepen des Terriers, als der alte Mann nach ihm trat. Dann erstarrte das Bild wieder in Bewegungslosigkeit.

Ich klappte die Zeitung zu und nahm den kleinen Jungen tröstend in den Arm. Doch irgendwie war er es, der mich tröstete.

„Es gibt auch fröhliche Bilder.“ flüsterte er mir zu, wie um mir Hoffnung zu geben. Und ich glaubte ihm.

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3 Antworten zu Hinter dem Bild

  1. J. MacLean sagt:

    Ich finde den Traum total interessant. Und auch etwas untypisch, zumindest so wie du ihn beschreibst, weil sich sonst in Träumen immer alles ändert und sie selten so zusammenhängend sind. Das mit dem bewegenden Bild erinnert mich an eine Kurzgeschichte, die ich vor Jahren mal gelesen habe. Da war auch ein Mann, der diese Fähigkeit hatte, auf Bilder zu starren und dann haben sie sich bewegt und er hat die ganze Geschichte gesehen. Was genau da passiert ist, weiß ich aber nicht mehr.

  2. werkarniggel sagt:

    Was den Zusammenhang in den Träumen betrifft: den hab ich öfters. Doch wenn ich Träume niederschreibe, erzählen sie nur eine gepresste Form und sind doch länger, als der eigentliche Traum. Ich weiß zB, dass der eben beschriebene Traum sich in Sekunden in meinem Kopf abspielte und doch scheinbar mehrere Traumstunden dauerte. Wichtig sind mir die Gefühle, die ich dabei empfinde. Ich hatte Angst, ich ahnte, das der Junge mehr als ich in den Bildern sah und ich wollte ihn nicht verlassen, so unbehaglich ich mich dabei fühlte vor dem Unbekannten, nicht Erklärbaren.

    Die Kurzgeschichte, die du ansprichst, kenne ich wirklich nicht, auch nichts vergleichbares. Nach dem Aufwachen dachte ich aber an den Film The Sixth Sense – der aber in den letzten Tagen gar kein Thema war bei mir. Ich kann mir zurzeit nicht erklären, woher diese Traumgeschichte kommt.

  3. J. MacLean sagt:

    Ich habe auch öfter mal so zusammenhängende Träume, meistens sterbe ich darin oder die Welt geht unter oder sowas in der Art.
    Ich versuche meistens auch gar nicht, Träume zu interpretieren. gefühöe in Träumen sind auf jeden Fall wichtig, darum halte ich auch nicht viel von Traumdeutungsbüchern und solchen Sachen.
    Ich weiß echt nicht mehr, wie deise Geschichte hieß oder von wem sie ist, sie war in einem Buch mit einer Sammlung von Horrorkurzgeschichten, die mal eines nachts gelesen hatte, als ich ca 13 war. Ein Teil dieser einen Geschichte ist hängen geblieben, da ich danach Angst hatte, Bilder länger anzusehen. Vielleicht will dir dein Unterbewußtsein mitteilen, daß nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Wer weiß…

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