Brief an m eine Brüder

Hey, ihr beiden.

Es ist die Woche nach Ostern 2024 und ich habe frei. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich gerade nichts mit mir anzufangen. Die Osterdeko ist bereits wieder weggeräumt, der blöde Strauch hat sowieso nicht geblüht. Fast bin ich geneigt, das persönlich zu nehmen; als etwas, das ich mir so hübsch vorgestellt habe, aber das eben nicht für mich funktioniert. Nun ist er jedenfalls weg, und das Waldwohnzimmer sieht wieder „normal“ aus. Im TV läuft eine Doku über eine Hauptschule in Köln. Gegessen habe ich heute noch nichts, aber einen Kaffee hatte ich immerhin schon. Es ist 15 Uhr. Ich war bis 13:30 Uhr im Bett. Lesen – Schlafen – Videos gucken – Schlafen; immer im Wechsel. So hätte ich das den ganzen Tag noch durchziehen können. Naja fast. Hat mein Vater nicht dich, Stefan, dafür mal fürchterlich ausgeschimpft? Du warst da vielleicht 16 und in meiner Erinnerung regelmäßig mit meinem Vater im Clinch, er war eben nicht dein Vater. Als Teenagerin habe ich dann in deinem Zimmer in den Ferien auch die Tage verschlafen und mich nachts herausgeschlichen; immer auf der Suche nach irgendwas. Wonach wusste ich eigentlich nie, nur, dass da eben noch was sein musste.
Dieses damalige Gefühl der Leere verspüre ich heute auch noch manchmal, aber es ist eine andere Leere. Eine Leere, die in Verlust begründet ist. Die damalige Leere war eher eine Suche nach etwas, das ich noch nicht benennen konnte.

Erinnerungen überfallen mich manchmal wie aus dem Nichts. Zum Beispiel wie mein Vater und du, Stefan, mich als Mädchen im Flur unserer Wohnung auf die Schultern genommen habt, damit ich Spagat üben konnte. Oder wie du, Torsten, und ich die große Steintreppe im Treppenhaus herunterrutschten, am Geländer oder mit einem Kissen unterm Hintern direkt auf den Stufen. Der große Weihnachtskaktus unseres Vaters stand in dem großen Treppenhausfenster zwischen Erdgeschoss und 1. OG.
Heute schaue ich in den Himmel und denke an euch. Jeder Regenbogen, jeder Marienkäfer, selbst der Regen, der ans Fenster trommelt, interpretiere ich als ein Zeichen von euch. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an euch denke.
Manche Tage sind vollgepackter als andere. Im Büro kommt man kaum zum Nachdenken über Verlorenes und Vergangenes, und damit auch nicht auf schwermütige Gedanken. Aber wenn ich – wie jetzt – mit mir alleine bin, dann hält nichts die Gedanken auf.

Deine Wohnung, Stefan, habe ich nun ausräumen lassen. Nun muss sie noch gekündigt werden, was schwierig wird, denn ich habe ja noch immer keinen Teil-Erbschein. Aber wenigstens ist jetzt ein Ende des Themas Wohnung in München in Sicht. In den letzten Wochen wurde die Vermieterin, die zu Beginn so verständnisvoll schien und die Monat für Monat ihre Miete bekommt, ziemlich fordernd. ‚Was ginge sie der Krempel an, der noch in ihrer Wohnung ist!‘ war eine ihrer Aussagen. Zum Schluss kamen aller 2 Tage Anrufe, Vorhaltungen und Forderungen von ihr, dass ich jedes Mal, wenn ich ihre Nummer im Telefon aufleuchten sah oder eine Email bekam, mein Herz weh tat. Mein Puls ging hoch und ich fing an zu zittern. Chef hat dem dann einen Riegel vorgeschoben und ihr (also der Vermieterin) untersagt, mich direkt zu kontaktieren, sondern wenn sie was will, soll das über das Anwaltsbüro passieren. Seitdem habe ich Ruhe. Zumindest oberflächlich. Innerlich warte ich auf die nächste Forderung, die kommen wird. Vermutlich wird sie fordern, dass ich die Wohnung nun komplett renovieren und auch den Parkettfußboden austauschen lasse; auf meine Kosten natürlich. Ich schiebe das die Woche noch weg von mir; aber ich ahne, dass mich das nächste Woche beschäftigen wird. Ich hoffe inständig, dass ich beide Erbscheine nun bald bekommen werde und dass sich der beantragte Nachlasspfleger für Stefans Nachlass nun endlich meldet. Überhaupt möchte ich nun endlich irgendwie das alles zumindest auf der Ebene abschließen.

Und ich möchte nach vorn schauen. Ich bin jetzt 53 Jahre alt, und ich werde Oma. Das ändert doch einiges. Seit gestern wissen wir auch das Geschlecht unseres Enkelkindes; ich verrate es euch bei Gelegenheit. Für das Würmchen will ich auch weiter abnehmen und fitter werden. Deswegen mache ich auch WW weiter. Ja, ich weiß, die letzten Tage habe ich es ein bisschen vernachlässigt. Zwar habe ich das Essen brav getrackt, aber es war eben viel Kuchen und viel Schokolade dabei und keine Schritte auf dem Laufband. Okay, dafür war ich letzten Samstag über 12.000 Schritte in Bremerhaven unterwegs, das war dann das andere Extrem.
Freie Zeit lässt mich scheinbar leicht verwahrlosen. Lange lesen, oder schlafen, dafür den Tag verpennen und komische Filme schauen. Ich vermisse meine Serien, Queer As Folk, Heartstopper, sogar ein bisschen Young Royals. Ich habe eben auch niemanden, mit dem ich meine Lieblingsserien bequasseln könnte. Ich weiß nicht einmal, was ihr dazu gesagt hättet, wären wir uns noch einmal persönlich begegnet. Von dir, Torsten, weiß ich immerhin, dass du damit so gar nichts anfangen konntest und das Thema einfach ignoriert hast. Wenigstens weiß ich, dass du jahrelang über dieses Blog von meinem Leben wusstest. Was du wohl dazu gesagt hättest, dass du Großonkel geworden wärst?
Ach ja, es gäbe so vieles, was ich mit euch in unserem Waldwohnzimmer besprechen hätte wollen. Ich vermisse euch. Wenn ich gewusst hätte, dass ich euch niemals wieder sehe, ich hätte nicht so viel Zeit verstreichen lassen; bis es eben zu spät war. Es ist etwas dran an dem Spruch: Man bereut am Ende selten, was man getan hat, sondern mehr die Gelegenheiten, die man nicht gepackt hat. Warum bin ich nicht zu dir nach Frankfurt am Main gekommen, Torsten? Es gab Gelegenheiten. Und warum habe ich nicht intensiver nach dir gesucht, Stefan? Es gab auch da Möglichkeiten; aber ich hatte Schiss, alte Erinnerungen aufzuwühlen, wenn ich Kontakt zu unserem Cousin herstellen würde. Verletzende Sätze, 25 Jahre her; die aber trotzdem noch weh tun. Am Ende bleibt eben das „Hätte ich mal eher …“

Zu spät. Für immer zu spät. Oder zumindest in diesem Leben für mich zu spät. Ich klammere mich an den Gedanken, dass ich euch wiedersehen werde.
Machts erst mal gut, ihr beiden, passt auf mich auf und schickt mir ab und an mal ein warmes Gefühl und einen tröstenden Gedanken. Ich vergesse euch nicht, und wir sehen uns wieder. Versprochen. Bis dahin erst mal ….

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