Der ermordete Kuss

Hubby fand sie wieder. Und so möchte ich euch diese Geschichte nicht vorenthalten, auch wenn sie traurig ist. Sehr traurig – und tiefer einschneidet, als alle anderen. Aber das wurde mir erst sehr viel später klar, dass mit dieser Geschichte alles anfing, alles seinen Lauf nahm und mich zu dem machte, was ich bin.

Ein Wort noch zur Warnung: Bitte lest nicht weiter, wenn ihr ähnliche schlimme Kindheitserfahrungen gemacht habt, mit Menschen, denen ihr vertrautet, die euch aber ausnutzten, missbrauchten, und mehr als euren Körper verletzten …

Der ermordete Kuss

Durch das kaputte Dachfenster zwängte sich ein Lichtstrahl und lies die tanzenden Staubkörnchen des Dachbodens glitzern. Es roch nach trockenem Holz, Staub und alten Zeitungen. Ein Mädchen, nicht älter als 8 Jahre, betrachtete durch die Holzgitterstäbe die Tauben in dem kleinen Verschlag. Eigentlich durfte sie nicht hier sein. Keines der Kinder des Mietshauses durfte allein auf dem Dachboden herumstöbern. Selbstverständlich war es gerade deswegen besonders aufregend, den Dachboden mit seinen Nieschen, Verschlägen, alten Truhen und Geheimnissen zu erforschen.

Heute jedoch war Sophie allein. Sie hockte sich vor den Taubenverschlag und schaute den Vögeln zu, wie sie auf den kleinen Stangen saßen, sich das Gefieder putzten, sich aufplusterten und die Köpfe unter die Flügel steckten, um zu schlafen. Einige pickten die hingestreuten Körner auf, und ständig kamen neue Tauben durch das offen stehende Dachlukenfenster herein, während andere den Verschlag nach einer Weile wieder verließen. Sophie lauschte ihrem Gurren und erzählte ihnen von ihrem Tag. Sie mochte die Tauben, und wenn sie die Augen schloss, dann war sie Aschenputtel – und das waren ihre Tauben.

Und dann war Sophie nicht mehr allein.

Sie bemerkte ihn zu spät, er hatte die Tür bereits hinter sich abgeschlossen und den Schlüssel in seine Hosentasche gesteckt. Langsam kam er auf Sophie zu und hockte sich neben sie auf den Holzfußboden. Er roch nach Bier und Zigaretten. Sophie hatte keine Angst, sie kannte den Mann. Ihm gehörten die Tauben. Er versprach ihr, den Verschlag zu öffnen, und sie würde sogar eine der Täubchen streicheln können – später. Sophie war begeistert. Der Mann streichelte dem Mädchen durch die langen Haare und wie unabsichtlich fuhr seine Hand über ihren Nacken. Sophie kicherte, denn es kitzelte. Der Mann zog das Mädchen näher zu sich heran. Er flüsterte ihr ins Ohr, das sie wie eine kleine Prinzessin wäre. Seine Hände waren plötzlich überall an ihr, streichelten den Mädchenkörper und zogen ihr das T-Shirt hoch. Sophie mochte das nicht. Aber er versprach ihr, gleich den Schlüssel für den Verschlag zu holen, dann würde sie eine der Tauben in der Hand halten und streicheln können, sie müsste jetzt nur ein bisschen lieb zu ihm sein. Prinzessinnen sind doch lieb, flüsterte er ihr wiederholt zu und sein widerlicher Atem lies Sophie frösteln. Seine großen Hände waren unterdessen zwischen ihren Beinen. Langsam zog er dem Mädchen zuerst die Strumpfhose, dann auch den Slip herunter. Sophie versteifte sich und blickte erstarrt auf die Tauben in dem Verschlag. Sie ahnte, dass etwas ganz und gar nicht richtig war. Hab keine Angst, flüsterte der Mann. Männer tun mit Frauen diese Sachen, wenn sie sich lieb haben. Du bist doch schon fast groß, Prinzessin. Sein stinkender, widerlicher Atem ging nun schneller, er keuchte und schwitzte. Er drehte Sophies Kopf zu sich herum und presste seinen Mund auf den ihren. Seine Zunge drang in ihren Mund ein. Sophie wollte zurückweichen, doch die Männerhände hielten sie fest umklammert. Sophie versuchte, ihren Kopf wegzudrehen und Angst kroch in sie. Das war nicht richtig! Das konnte nicht richtig sein! Wieder presste der Mann seinen Mund auf den Kindermund, und von den Bier und dem Zigarettengestank wurde Sophie übel. Sie versuchte, den Mann von sich wegzudrücken. Seine abscheuliche Zunge war noch immer in ihr.

Endlich gelang es ihr, ein paar Schritte zurückzuweichen. Fast wäre sie gefallen. Schnell brachte sie ihre Kleidung in Ordnung, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Der Mann erhob sich, fast schien er unschlüssig, was er nun tun sollte. Er fasste Sophie grob an den Haaren und zischte: Wenn du etwas davon erzählst, muss ich alle Tauben töten! Das bleibt unser kleines Geheimnis! Du magst doch die Tauben?! Du willst doch nicht, dass ich sie töte?

Sophie schüttelte nur den Kopf, unfähig etwas zu sagen.

Wortlos schloss der Mann die Bodentür auf und Sophie huschte hinaus.

Sie ahnte nicht, dass sie erst 30 Jahre später weinen würde, weil an jenem Nachmittag auf dem Dachboden ihre Küsse ermordet wurden. Sie wurden ihr genommen. Sie küsste niemals in ihrem Leben. Sie wünschte, sie könnte es wenigstens einmal erfahren: einen Kuss, so, wie der Prinz seine Prinzessin küsst.

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