Das Rote Fahrrad

Es war Weihnachten. Wie jedes Jahr hatten mein kleinerer Bruder und ich die Stunden vor der Bescherung im Zimmer unseres großen Bruders ein Stockwerk höher verbracht. Er spielte uns Musik vor und seine selbstgebastelte Lichtershow warf rote, blaue, gelbe und grüne Lichtfarbkleckse an die Wände. Dazu spielten die Puhdys und Karat – angesagte Bands damals, so um 1979 in der DDR.

Mein kleiner Bruder quengelte manchmal, er war neugierig und hin und her gerissen, ob er noch an die Weihnachtsmannstory glauben sollte, die uns unser Vater immer auftischte. Immer war der Weihnachtsmann gerade eben weg, wenn wir wieder nach unten in die Wohnstube gerufen wurden. Angestrengt lauschte mein Bruder in das Treppenhaus, ob er nicht etwas hören würde, was die Ankunft des Weihnachtsmannes verraten würde.

Endlich war es soweit, Vater klopfte an die Zimmertür und lächelte. „Oh, ihr habt schon wieder den Weihnachtsmann verpasst!“

Wir stürmten in das Wohnzimmer – und da stand es an die Schrankwand gelehnt: Das rote Fahrrad! Mein rotes Fahrrad! Ich war ganz aus dem Häuschen und hätte es am liebsten sofort ausprobiert. Wir schoben das Fahrrad in den großen langen Flur und Vater und mein älterer Bruder stellten Sattel und Lenkrad auf meine Größe ein. Gleich morgen nach dem Frühstück würde ich fahren können, versprach mir mein Vater. Den Rest des Abends verbrachten wir gemeinsam im Wohnzimmer, Kerzen und Räuchermännchen waren an, die Weihnachtspyramide drehte sich, der Fernseher lief und zu Naschen gab es Schokolade und Kekse, und die teure Orangen-Perle, die es für uns Kinder nur an Festtagen zu trinken gab.

Der 1. Weihnachtsfeiertag war klirrend kalt, aber es hatte nicht wieder geschneit. Ich konnte es kaum erwarten, mein neues rotes Fahrrad auszuprobieren. Vater trug es durch das Treppenhaus nach unten und ich hüpfte aufgeregt nebenher. „Aber in einer Stunde bist du wieder zurück, dann gibt es Mittag!“ ermahnte mich Vater und ich versprach alles, stülpte die Handschuhe über und hui … los ging es, durch die Straßen und Gassen meines Heimatdorfes. Stolz wie sonst nichts, denn das war ja kein Kinderfahrrad, nein, dass war ein richtig großes Fahrrad, in Rot und es gehörte von nun an mir. Es machte auch nichts, dass meine Füße noch nicht auf den Boden reichten, wenn ich auf dem Sattel saß und ich, wann immer ich anzuhalten gedachte, einen kleinen Hoppser machen musste. In meiner Fantasie verwandelte es sich bald in ein schnelles Pferd und ich nannte es Karino.

So fuhr ich etwa eine ¾ Stunde durch den klirrend kalten Weihnachtsmorgen.

Und dann gab es ein fürchterliches knirschendes Geräusch, und der Vorderreifen war platt. Eine Eispfütze hatte den Reifen beschädigt. Weinend schob ich das Fahrrad die letzten Meter nach Hause. Was würde wohl Vater sagen? Ich hatte versprochen, es immer gut zu pflegen und sorgsam zu behandeln und nun war es gleich auf der ersten Fahrt kaputt gegangen.

Vater erwartete mich bereits im Hauseingang und ich weinte noch mehr. „Hey, was ist denn passiert?“ begrüßte er mich und hockte sich zu mir hinunter, um sich den Schaden zu betrachten. Ich stotterte und schluchzte nur, dass ich das nicht gewollt hatte und dass es einfach passiert ist. Vater zog eines seiner großen Taschentücher aus der Hose und wischte mir damit die Tränen ab. „Ist schon gut, das bringen wir wieder in Ordnung. Ist halb so schlimm. Morgen funktioniert es wieder!“ Den Nachmittag verbrachte ich bei meinem Vater in seiner kleinen Kellerwerkstatt. Er zeigte mir, wie man das Loch im Schlauch findet und flickte den Reifen. Das alte Kellerradio spielte Weihnachtsmusik und ich schaute ihm zu. Ich hatte meinen Vater unendlich lieb. Er wußte einfach immer, was zu tun war.

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