Die Versammlung der Flüchtlinge

Die Strahlen des bleichen Mondes zersplitterten auf den dunklen, groben Steinfliesen. Der Wind heulte und es hörte sich fast wie das Klagen eines Wolfes an. In der Mitte des Gemeinschaftswaschraumes befand sich ein Ring aus Waschbecken, ebenso waren die gegenüberliegenden Wände mit Becken und Duschen ausgestattet. Ein stetiges Tropfen zerriss im Minutentakt die zeitweise einsetzende Stille. Kerzen und Teelichter waren überall verteilt und warfen flackernde Schatten an die Wände.

Etwa 15  Jungen und Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren saßen auf schmalen Bänken oder auf Jacken und Decken direkt auf dem Boden und wärmten sich die Finger an den Kerzen. Rotwein in Pappbechern und Kaffee wurden herumgereicht. Jemand spielte auf der Gitarre das Lied vom kleinen Trompeter, einige sangen leise dazu mit. Als das Lied verklungen war, trug ein junger Mann mit dunkler Stimme ein Liebesgedicht vor. Alle lauschten ergriffen den Worten, niemand lachte oder kicherte. Wir waren eine Gemeinschaft von Flüchtlingen. Flüchtlinge vor dem Grau der sozialistischen Vereinheitlichung, der Gleichschaltung. Zaghaft befreiten sich die Gedanken in dem dunklen, kalten Waschkeller und stiegen wie Seifenblasen zum bleichen Mond auf. Leise wurden Diskussionen geführt. Ein Mädchen erzählte von ihren Träumen; sie wollte Paris sehen oder den Fuji Yama, aus New York berichten. Wir alle hatten Träume, aber wir ahnten, dass es für die meisten vermutlich geheime Träume bleiben würden, unerreichbar. Doch in dem alten Klostergebäude, in der Nacht vor der Konferenz für angehende Journalisten, spürte ich die Magie der verschworenen Gemeinschaft. Wir waren keine Verräter, nur weil wir unseren Träumen gestatteten, zaghaft frei zu tanzen. Ich gehörte dazu, ich teilte meine Gedanken, Träume, Sehnsüchte mit Menschen, die ich erst wenige Stunden zuvor kennengelernt hatte. Wir kamen aus allen Teilen des Bezirkes, waren in journalistischen Arbeitsgemeinschaften organsiert; wollten studieren – und die Welt sehen. Die Welt, die doch so viel größer sein musste, als etwas über 108.000 km². Drohten wir zu laut zu werden, gemahnte uns ein beruhigendes Pssss, den Ton zu dämpfen, denn die verantwortlichen Erzieher ahnten nichts von diesem geheimen Treffen. Sie glaubten uns in den Schlafsälen des ehemaligen Klosters. So sanken wir wieder in die Stille zurück, und das Tropfen des Wassers hallte den wegwehenden Träumen nach wie ein Echo.

Wieder erklangen die Akkorde der Gitarre und jemand stimmte die Internationale an. Von uns aus, weil wir es wollten, sangen wir mit, leise, aber uns der Strophen und ihrer Aussage im Klaren.

Diese Nacht veränderte mich, ohne, dass es mir zuerst bewusst wurde. Ich dachte über Vaterlandsliebe und Nationalismus nach, über meinen Platz in einem System, das mir Gedanken aufzwingen wollte und Wege vorzeichnete. Ich war nicht unglücklich in der DDR; aber wie viele hatte auch ich Träume. Ich war 15 Jahre alt, und mein Leben fing gerade erst an. Zum ersten Mal sah ich den Käfig, und zum ersten Mal spürte ich die Magie und die Kraft der wahren, ungezwungenen Gemeinschaft.

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Eine Antwort zu Die Versammlung der Flüchtlinge

  1. Schaaaf sagt:

    Ach GKchen (feat. Knuffel u. M.):

    Allein euch kennen zu lernen waren Träume wie deine und was daraus geworden ist wert – es kam wie es kommen musste.
    Damit sei alles gesagt;)

    LG
    Schaaaf

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