Flucht

Weite Prärie, Grasfelder und ein blauer Horizont. Ich glaubte den Wind zu spüren, als ich mit Winnetou und Old Shatterhand durch den Wilden Westen ritt. Die Dämmerung setzte bereits ein und es wurde schwieriger, die Spuren von Santer zu verfolgen. Ich schmunzelte über Sam Hawkins.

Völlig versunken in meiner eigenen Welt, wie sie mir damals die Bücher schenkten.

Plötzlich Geschrei, jemand zog an meinen Haaren, brüllte mich an. Minutenlang wußte ich nicht, wo ich war. Ich sah das gerötete Gesicht meiner wütenden Stiefmutter über mir. Sie schüttelte mich, ununterbrochen schreiend und schimpfend, und versuchte, mir das Buch aus den Händen zu reißen. Ein paar Seiten des Romans zerrissen. Tränen schossen mir in die Augen. Ihre Hand hinterließ einen brennenden Abdruck auf meinem Gesicht. Ich hatte den Müll nicht hinunter gebracht; und auf ihr Rufen nicht reagiert. Sie holte zum nächsten Schlag aus und packte wieder nach meinen Haaren. Ich stieß sie mit Wucht weg, schleuderte sie gegen die Schrankwand. Einen Moment lang war ich selbst erschrocken über die Kraft. Sie wohl auch. Ich war 13 Jahre alt, und begann mich zu wehren.

Natürlich bekam ich Stubenarrest. Natürlich brüllte und schimpfte sie weiter und schrie das ganze Haus zusammen, wie unnütz und frech ich wäre und dass man mich in ein Heim stecken muss. Mich und meinen Bruder gleich mit.

Noch abends im Bett las ich die mit Tesafilm halbwegs reparierten Seiten von Karl May und flehte Winnetou und seinen Blutsbruder an, mich mitzunehmen, weg aus dieser Welt. Sie erfüllten mir für ein paar Stunden diesen Wunsch.

Dieser Beitrag wurde unter Scherbenglanz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.