Moosgeflüster

Die Luft war schwer und durchdrungen von Nässe und Grün. Dicke Tropfen plumpsten von den Blättern und spielten eine Sinfonie. Das Plätschern des nahen Rinnsals verschmolz mit den intensiven Farben des kleinen Wäldchens, Grün und Braun verwoben sich mit dem Geruch nach Pilzen und Moos. Zaghafte Sonnenstrahlen blinzelten durch die hohen Bäume und Spinnennetze an den Sträuchern verwandelten sich in wundersame funkelnde Gebilde. Sie  kostete die Brombeeren direkt vom Strauch und summte. Vögel begannen ihr Gezwitscher und Sopie lauschte fasziniert und verzaubert, saugte Farben, Licht und Geräusche in sich ein, atmete den Wald, fühlte die Feuchtigkeit mit ihren Fingern, die sanft über das weiche nasse Moos glitten. Sie breitete die Arme aus und tanzte. Dann begann sie zu singen, in einer Sprache, die nur sie verstand und die keine Übersetzung brauchte. Sie war glücklich, das hier war ihre Lichtung, ihr Platz, wo Wunder geschehen konnten, und sie gehörte ihr. Sie bemerkte nicht die gierigen Blicke des jungen Mannes, der sich hinter einem Baum versteckt hielt und sie beobachtete.

Als sie ihn entdeckte, zerstörte sein unheilvolles falsches Lächeln die Magie des Ortes. Sophie rannte los. Sie rannte aus dem Wäldchen, hinaus auf die Wiese, deren Gras meterhoch stand. Sie hörte seine Schritte und sein Rufen, sie möge stehenbleiben. Doch etwas trieb sie weiter, immer weiter. Fort. Schnell. Dann geschah es, sie stürzte und augenblicklich spürte sie den Schmerz im Knie. Dann war er über ihr und sie wehrte sich gegen ihn und seinen stinkigen Atem. Er war nur ein paar Jahre älter als sie selbst und er roch nach Alkohol. Sophie kannte seinen Namen. Er grinste sie triumphierend an. Panik stieg in Sophie hoch und sie versucht, klar zu denken. „Ich kenne dich!“ sagte sie ruhig und unterdrückte den Schrei, der aus ihr herauswollte, so, wie sie die Tränen des Schmerzes unterdrückte. „Ich kenne deinen Namen!“  Mehr sagte sie nicht. Aber es reichte aus. Er erbleichte, schien wie aus Trance aufzuwachen und ließ von ihr ab. „Es tut mir leid!“  stotterte er und nun schien die Angst in seinem Gesicht zu erstarren. Sophie versuchte auf die Beine zu kommen, ignorierte den Schmerz und humpelte davon. Sie konnte das rechte Bein nicht belasten, das Knie versagte ihr und noch immer gestattete sie sich nicht, schwach zu wirken. Sie hinkte über die Wiese, er folgte ihr langsam, unschlüssig, schweigend. „Geh weg!“ schrie Sophie, und versuchte, den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. „Es tut mir leid!“ waren die einzigen Worte, die er herausbrachte.

Sophie schleppte sich zum nächsten Bauernhof. Der Bauer fuhr sie mit seinem Auto nach hause. Von dem Jungen erzählte sie niemanden. Später begegnete sie ihm manchmal auf dem Schulhof. Ihre Blicke trafen sich, seine ängstlich, ihre verächtlich. Doch Sophie wahrte das Geheimnis, und trauerte nur um die geheimnisvolle Lichtung, deren Magie seitdem verschwunden war.

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