Werwolf

Als ich den Tisch in dem Flur des alten Schulgemäuers sah, wusste ich, dass wir es vermasselt hatten. Die Küche stand auch noch nicht, wie sie stehen sollte, und vorbei laufende andere Schüler rümpften bereits überheblich die Nase; sie wussten wie ich, dass die alte Hauswirtschaftslehrerin darauf herumreiten und uns auf ihre subtile Art und Weise fertig machen würde. Da half es auch nichts mehr, dass ich ein paar dunkelblaue Kerzen noch umstellte und die Tischdecke gerade zupfte. Wir hatten es vermasselt. Der Tisch sah einfach Scheiße aus in dem Flur. Ich kühlte erschöpft und resigniert meine heiße Stirn an den groben kalten Backsteinmauern und wartete auf das Erscheinen der Lehrerin. Aber sie kam nicht. Statt dessen rannten Unmengen von Schülern panisch aus einem Gang heraus, aus dem ein dumpfes Grollen ertönte. Ich kämpfte mich durch die kreischenden Menschenmassen auf den Gang zu. Meine Nackenhaare stellten sich auf, irgendetwas passierte in dem Gang, und es war nicht richtig! Etwas Gefährliches, Wildes, dem man tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Und ich lief mitten hinein! Wieso lief ich mitten hinein? Ich presste mich bei dieser Erkenntnis erschrocken in einen Seitengang, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine übergroße, verkrüppelt und verwachsende, bucklige und mit Fellzotteln behangene Gestalt an mir vorbei sprang, in die Menschenmenge, und anfing, Schüler im hohen Bogen durch die Luft zu schleudern. Diese kreischten und schrien vor Entsetzen; aber das Wesen hörte nicht auf. Es stieß fürchterliche Laute aus, ein Knurren und Grollen; und rannte den Gang hinunter, um in einem anderen Seitengang zu verschwinden. Dann war plötzlich Ruhe.

Aber nur für kurze Zeit; denn ein winziger italienischer Professor krabbelte im nächsten Moment durch einen Gullideckel, entdeckte mich und rief mir vorwurfsvoll zu, wo ich denn bleiben würde! „Nun kommen Sie endlich! Wir haben doch nicht ewig Zeit, und Sie haben doch darauf gedrängt, die Stadt zu sehen!“ Das hatte ich, also sprang ich hinter dem kleinen Professor in den Abwasserkanal und wir hasteten durch weitere tropfende, dunkle Kanäle. Ich fragte mich, ob wir hier dem Werwolf oder einem Wendigo begegnen würden, aber nichts dergleichen geschah. Der Professor war für seine Kürze ziemlich flink. Er trug als einziger eine Fackel, die nur unzureichend Licht spendete. Aber ich hatte mich sowieso schon hoffnungslos verlaufen. Ab und zu hielt der kleine Fackelträger inne, um uns auf einen besonderen Stein in dem Kanal aufmerksam zu machen. Schließlich aber kamen wir zu einer Öffnung an der Decke, ein weiterer Gullideckel, durch den wir kriechen sollten, um an das Ziel unserer Besichtigungstour zu kommen: eine gigantische Rohrstadt, glänzend und glitzernd. Ich versuchte, mich als Letzte durch die kreisrunde Öffnung zu zwängen, aber – ich blieb stecken. Einfach stecken. Nichts ging mehr, weder vorwärts noch rückwärts; ich hing einfach fest. In der Ferne sah ich die Rohrstadt schimmern und ich dachte immerfort: „So nah am Ziel, und jetzt sitzt du hier fest!“ Der Professor war mit den anderen bereits weiter gelaufen. Ich spürte eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung in mir aufsteigen, dass sie nicht einmal bemerkt hatten, dass ich nicht aus dem Loch kriechen konnte. Plötzlich stand der Professor wieder vor mir, sah mich vorwurfsvoll an und fragte, wo ich denn bleiben würde? „Hallo?! Wie Sie sehen, stecke ich in einem Loch fest!“ verteidigte ich mich. „Papperlapp! Sie stecken nicht fest, Sie müssen es nur richtig machen! Denken Sie sich frei!“ Blödmann! Aber es funktionierte, und ich dachte mich frei. Fast erwartete ich ein Ploppen, als ich aus dem Loch kroch …

… und in einem Straßencafe saß. Mir gegenüber ein Mann, den ich zu kennen schien, im Seidenhemd und mit einer dieser Fliegerbrillen, das Haar kurz und streng zurückgekämmt. Er schaute auf die glitzernde Rohrstadt in der Ferne, und dann zu mir, lächelte mich an, seine Zähne blitzten weiß und strahlend und ich spürte Stolz, denn dieser Mann – das wusste ich mit untrügerischer Sicherheit, die mich mit Zufriedenheit erfüllte – war mein Werwolf – und mein Sohn.

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Eine Antwort zu Werwolf

  1. werkarniggel sagt:

    Also: Es gibt in Wirklichkeit die blauen Kerzen, es gab auch einst das alte Schulgebäude aus groben Backstein gebaut; und auch wo die Küchenschränke herkommen, die in einem Flur im Traum rumstanden, kann ich mir erklären, schließlich hat uns die Küche wochenlang in Atem und in Stress gehalten.
    Aber es gab nie eine Hauswirtschaftslehrerin!
    Die Rohrstadt rührt vielleicht von einem Bild her, das ich vor kurzem gesehen habe, und das den Hafen von N. zeigt – glitzernd und aus Lichtern funkelnd.
    Der Professor wiederum ist mir völlig unerklärlich, keine Ahnung, wo der herkommt.
    Dass ich aber nur mich selbst aus dem Loch befreien konnte, könnte ich psychologisch-wertvoll oder zumindest sinnvoll erklären: Man muss auf seine eigenen Kräfte vertrauen.
    Nun, der Werwolf/Wendigo; vor dem ich erst Angst hatte, aber der mir trotzdem vertraut war! Hm … keine Ahnung, wofür der stehen könnte. Ich habe auch nicht vor kurzem die Wendigo-Supernatural-Folge gesehen.
    Dass der Mann im Seidenhemd und Fliegerbrille dann aber sich als mein Sohn entpuppt, gleichzeitig aber auch der Werwolf-Wendigo ist … nunja …Ähm … ich habe keinen Sohn (vielleicht hätte ich einen gehabt, damals, vor 24 Jahren, wenn das alles ganz anders gekommen wäre, wie es dann gekommen ist.)

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