Schwarzer Schnee

Die Menschenmenge stand mit lodernden Fackeln bewaffnet auf dem nass schimmernden Kopfsteinpflaster vor dem mächtigen alten Kirchenbau. Schweigend warteten sie. Unruhig zitternde Schatten tanzten auf den Gemäuern. Die Stimmung war unheilvoll, gefüllt mit Erwartungen und Angst, nahm sie Besitz von den Anwesenden, paralysierte sie, zwang sie, auszuharren. Schwarzer Schnee rieselte herab, langsam und glitzernd, in großen Flocken, wie ein unheilvolles Omen bevorstehender Ereignisse.

Nach einiger Zeit öffneten sich unglaublich lautlos die schweren eisernen Flügeltüren der Kirche. Einen Raunen wogte durch die Menge, als hintereinander 13 schöne Frauen in prächtigen Brautkleidern die Stufen hinab stiegen, würdevoll und majestätisch. Jedes der 13 Kleider war anders gestaltet; doch alle waren sie schwarz und mit glitzernden Perlen bestickt. Die weit ausschweifenden Säume der Kleider wischten über die Steinstufen. Still weinend schritten die Bräute langsam die Stufen hinab. Die schwarzen Schneeflocken schienen noch mehr zu funkeln und umhüllten die Frauen wie ein Schleier. Die Menschenmenge vor ihnen spaltete sich, gab eine Gasse frei, und die 13 weinenden Bräute verschwanden  in der Dunkelheit. Ein dumpfer Glockenschlag hallte durch die Gassen. Die Menschen fröstelten. Die Fackeln erloschen. Es hatte begonnen.

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Getrieben hetzten 7 Menschen die schmale gewundene Steintreppe nach oben auf den Glockenturm. Zumindest vermuteten sie, dass die Stufen zu dem Glockenturm führten, genau wussten sie es nicht. Die Wendeltreppe schien ständig ihre Dimension zu ändern, so dass sich bald niemand mehr sicher sein konnte, in welche Richtung er sich bewegte, ob nach oben oder gar nach unten. Die Menschen liefen weiter, hintereinander, schweigend, getrieben; weil es das einzige war, was sie tun konnten. Hoffend, dass sie bald ein Ziel erreichen würden, wo immer es auch war. Ihre Fingerspitzen glitten über den Putz des alten Gemäuers. Das Mauerwerk wurde porös, bildete immer filigranere Stuckverzierungen, durch die das Mondlicht schimmerte und sich in grotesken aber wundervollen Schattenmustern niederlegte. Endlich hatte die Gruppe eine Plattform erreicht. Der Glockenturmaufgang lag hinter, ein von Mondlicht beschienener See glitzerte unter ihnen. Atemlos blickten die Menschen herunter. Überraschtes Staunen darüber, es geschafft zu haben, lag in ihren Augen. Doch es blieb keine Zeit um zu verschnaufen. Der See unter ihnen verlor seine Ruhe, bäumte sich auf, wurde wild. Sturmböen peitschten gigantische Wellen an den Glockenturm, der plötzlich in der Mitte des Sees stand und sich wie ein Leuchtturm den Gewalten entgegenstemmte. Wolken rasten durch den Himmel und verdunkelten den Mond. Der Glockenturmes zerbröckelte unaufhaltsam, Stück für Stück. Die enge Wendeltreppe des Glockenturmes zerfiel Stufe für Stufe. Die 7 Menschen klammerten sich an das verbleibende Geländer der Plattform und blickten verängstigt auf das tobende Chaos unter ihnen. Schwarzer Schnee rieselte unwirklich sanft herab. 7 Riesenadler flogen heran, umkreisten die Plattform mit den Menschen. Sie ergriffen jeweils einen Menschen und trugen ihn fort. Einen Glockenschlag später zerbarst die Nacht mit dem Mond, dem Schnee und dem tobenden See.

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